Manets Kunst ist nicht belanglos

Ausstellung: Visite bei Edouard Manet im Von der Heydt-Museum Wuppertal

05.11.2017. Ruhrgebiet, im tristen November. Der BVB in der Krise. Wo gibt es einen Lichtblick?

 

Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal präsentiert seit dem 24.10.17 Edouard Manet, den mal abgewiesenen, mal hochgepriesenen Künstler aus dem französischen “Salon” des 19. Jahrhunderts. Er malt nicht nur vordergündiges Licht, sondern auch, was er dahinter wahrnahm und was ihn zum Vater, zum Übervater der Impressionisten macht. Das zu zeigen ist die ehrgeizige Intention von Museumsdirektor Gerhard Finckh, der die Ausstellung konzipiert hat und bis Ende Februar kuratiert.

 

Die Ausstellung ist ein ambitioniertes Unterfangen. Es ist so viel dafür aufgewendet, dass es gelingen könnte. Zuerst einmal: Der Rundgang im 2. Stockwerk des 1902 in Elberfeld gegründeten Städtischen Museums, heute eingepfercht zwischen Shops, Pommesbuden und Baustellen der freudlosen Fussgängerzone des engen Wuppertals, findet quasi auf einer anderen Umlaufbahn statt. Elf Räume reihen Einblicke in das Leben eines Künstlers aneinander, der nur 51 Jahre lebte und in einer schon sehr entlegenen Epoche wirkte, die tatsächlich vieles neu fokussiert hat.

 

Der ganz große Umbruch in Frankreich liegt damals allerdings schon Jahrzehnte zurück: Die Revolution von 1789 hat die von der Gnade Gottes und der Sonne hergeleitete Autorität des Königs durch einen neuen Souverän ersetzt: den mündigen Menschen. Was tut dieser Mensch, sobald er im Regen steht? Er konstituiert sich ein neues konstitutionelles Kaisertum und einen Nationalismus. Dieses Gemeinwesen teilt sich in ein reiches Bürgertum und arme Schlucker.

 

DER ABSINTHTRINKER, 1859 vom 27-jährigen Manet fertiggestellt, gilt den Kunsthistorikern als erstes eigenständiges Werk des Malers. Der Sohn einer großbürgerlichen Bürgermeister-Familie hat Brasilien und die östlichen Nachbarländer Frankreichs bereits bereist und orientiert sich jetzt an Gemälden des Spaniers Diego Velázques. Sein Lehrer Thomas Couture spottet, er erkenne keinen Buveur d’Absinthe, sondern nur den den Maler selbst auf dem Bild. Manet wird, nachdem es vom Pariser “Salon” zurückgewiesen ist, noch 13 Jahre daran arbeiten. Das wird nicht gezeigt, aber am Rande erwähnt.

 

In den zur Ausstellung bereitgestellten Texten ist die Rede davon, Manet sei zeitlebens ein überzeugter Republikaner und Demokrat und somit ein entschiedener Gegner von Napoleon III. gewesen, welcher sich sich 1851/1852 vom Präsidenten der 2. Republik zum Diktator des Zweiten Kaiserreiches hochputschte, wie Karl Marx im “18. Brumaire” beschrieben hat. Dieser von Manet nicht geschätzte Kaiser landet 1870 in preußischer Gefangenschaft.

 

Die Werkschau Manets gibt aber nur wenig Aufschluss darüber, ob er ein politischer Kämpfer gewesen ist. In der 1. Republik wie im 2. Kaiserreich verstand er sich gesellschaftlich und künstlerisch wohl eher als Einzelgänger, der im konservativen Rahmen des besseren Bürgertums seinen Platz und seinen Erfolg suchte. Dafür spricht, dass er sich unverdrossen an der jährlichen Leistungsschau des Salon der Académie des beaux Arts um Anerkennung bewarb. Dabei kassierte er mal Zurückweisung, mal Anerkennung. Nie, darauf weist das Museum hin, beteiligte er sich an den eher aufrührerischen und avantgardistischen Ausstellungen seiner impressionistischen Freunde und Nachfolger, die ihren eigenen Weg suchten und anders als Manet den Salon nicht mehr als alleinigen Kampfplatz der Künste ansahen. Ein Übervater war er wohl nicht.

 

Positiv: Ja, die Ausstellung in Wuppertal ist eindrucksvoll, weil sie ein Zehntel der Bilder von Edouard Manet versammelt. Sie sind unter elf Gesichtspunkten aufbereitet: Sehenswert die 45 Originale. Eindrucksvoll auch Reproduktionen in Originalgröße, die jedoch zum Teil, weil rahmenlos, nur wie Fototapete wirken. Ergänzt sind etliche Bilder von Manets Zeitgenossen und Weggefährten. Erhellend auch kleinformatiges Foto- und Grafik-Material, das die neuen Herausforderung an Künstler des 19. Jahrhunderts visualisiert. Mancher glaubte damals an das Ende der Malerei und hat sich geirrt.

 

Negativ: Eine so ehrgeizige Ausstellung hätte es verdient, eben nicht in sterilen Kunsträumen präsentiert zu werden. Das Arrangement in den kahlen Zimmern fokussiert den Blick allein auf die Bilder, nicht auf den Maler und seine Zeit. Kleinformatiges ist zu klein. Um im Großformatigem das Auge wandern zu lassen, möchte der Betrachter sitzen, aber es finden sich nur wenige Schemel.

 

Warum nicht dort, wo das Berühren der Kunst verständlicherweise nicht erlaubt ist, wenigstens vor der Reproduktion des FRÜHSTÜCK IM GARTEN im skandalträchtigen Raum 2 ein Hinweis: Bitte Anfassen! Bitte gern mit Blitzlicht fotografieren! Oder am Ende im Raum 11 ein Garderobenständer, der den Zylinder der AMAZONE, die draußen auf den Plakaten zur Manet-Schau einlädt, zum Probieren anböte? Warum nicht im Raum 4 zum Thema “Manet und die Fotografie” eine traditionelle Staffelei neben einem Stativ mit einer ungetümen Kamera, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt war?

 

Manets Triumphe und Skandale: Ja, die Ausstellung hat mir den Einzelgänger, der die Grenzen des Bürgertums ausleuchtet und ausweitet näher gebracht. Aber gleichzeitig eine kunsthistorische Aura um ihn gelegt, die schon zu lange Weile hat. Das FRÜCHSTÜCKS-Gemälde, das im Pariser Salon aussortiert war und vom Kaiser selbst der Schamlosigkeit verdächtigt wurde, ist heute jedem Kunstkenner so vertraut, dass man kaum noch hinschaut. Nicht die leuchtende Nackte im Vordergrund ist der Rede wert, sondern die bekleidet Badende im zwielichtigen Hintergrund - verstößt doch sie gegen die heutigen Sitten, wenn sie derart vermummt ins Schwimmbad ginge.

 

Der Museumsbesucher wird bereit sein, sich neu mit Manets Werken auseinanderzusetzen, wenn sie nicht belanglos präsentiert, sondern als Zeugnisse ihrer Zeit belangt werden. Wären Häfen und Gewässer sein Thema gewesen, wenn er nicht in frühen Jahren über den Atlantik gereist wäre? War Waterloo für einen Maler wichtig, der doch 1870, obgleich Republikaner, für den nächsten Kaiser ohne Widerspruch in den Krieg zog? Die Ausstellung zeigt viele Fotografien der Ruinen, aber sie stehen zu unvermittelt neben dem Ölgemälde DIE EXPLOSION, in dem Manet 1871 in nur kleinem Format ein menschliches Desaster aufscheinen lässt.

 

Schwarz und Gelb leuchten die Plakate und das Cover eines aufschlussreichen Katalogs. Die Farben von Preußen - lateinisch: Borussia. Manet, lichte Kunst, lebendige Republik: Chapeau, Monsieur Manet!

 

Klaus Commer


Zwischen den Stühlen einer Wohngemeinschaft

Film: Bar Bahar / In Between - Spielfilm 2016 Israel, Frankreich - Buch und Regie Maysaloun Hamoud - Aufführung beim Frauenfilmfestival Dortmund 4. bis 9. April 2017

Ja, es ist zumindest vorläufig "Alles unter Kontrolle", wie die fragwürdige Übersetzung von "In Control of the Situation", des diesjährigen Mottos beim Internationalen Frauenfilmfestival in Dortmund lautet. Das ist mein Eindruck bei meiner Stippvisite mit einem Besuch des sehenswerten Spielfims BAR BAHAR / BETWEEN der palästinensischen Autorin und Regisseurin Maysaloun Hamoud. Sie zeigt die beruhigende und ermutigende Geschichte von drei starken Frauen, die in Tel Aviv außerhalb ihrer Wohngemeinschaft mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenswelten in Konflikt geraten. Erzählt wird eine exemplarische Geschichte weiblicher Solidarität, die sich bewährt vor dem Hintergrund der Konflikte, die die drei Protagonistinnen in unterschiedlicher Weise zwischen den Ansprüchen der Tradition und der Moderne erleben. 

 

Drei Araberinnen teilen sich eine Wohnung in der israelischen Metropole Tel Aviv. Layla (Mouna Hawa) ist eine engagierte Strafverteidigerin, in ihrem beruflichen und persönlichen Umfeld hat sie mehrheitlich mit jüdischen Partnern zu tun. Salma (Sana Jammelieh) arbeitet im Nachtleben der Stadt als DJ. Sie verstört ihre christlichen Eltern, bei denen sie mit ihrer lesbischen Gefährtin zu Gast ist. Nour (Shaden Kanboura), die aus der mulimisch geprägten Kleinstadt Um-el-Fahem hinzukommt, um in Tel Aviv Informatik zu studieren, versucht ihre traditionelle Religiösität zu bewahren und den Verhaltensregeln ihre konservativen Verlobten zu genügen. 

 

Dies ist kein Film über spezifische Probleme der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel. Im Gegenteil. Die Konstellation erscheint eher wie ein Spiegelbild der jüdischen Majorität des Staates. Die Wohngemeinschaft in Tel Aviv entspricht der in Israel unter Juden gern kolportierten Charakterisierung des Landes insgesamt: In Haifa werde gearbeitet (wie von Layla), in Jerusalem gebetet (wie von Nouri) und in Tel Aviv getanzt (wie von Salma). In diesem Film findet dies - arabisch gewürzt - auf wenigen Quadratmetern statt. Und so wie es trotz aller Unterschiede in den drei Städten eine tief verwurzelte jüdische Solidarität mit dem fälschlicherweise als "jüdisch und demokratisch" bezeichneten Staat gibt, gibt es in dieser Wohnung ein unerschütterliche Einigkeit zwischen den unterschiedlichen arabischen Frauen. Die Spannungen zwischen Tradition und Moderne im "jüdischen" Staat Israel bilden sich ab in der kleinen Wohnung der drei "palästinensischen" Frauen. 

 

Die gesellschaftliche Allegorie bleibt aber unausgesprochen und im Hintergrund, so dass der Film an keiner Stelle zur politischen Agitation wird, auf die es ihm vordergründig nicht ankommt. Tel Aviv kann auch Berlin sein. Nouri kann auch aus dem tiefschwarzen Bayern anreisen. Was die drei Frauen märchenhaft auszeichnet und eint, ist ihre unbedingte, fraglose Akzeptanz der jeweils anderen. Das gleiche Geschlecht, die selbe Ethnie, die Verwandtschaft, das alles spielt mit, ebenso wie die - bei völliger Unterschiedlichkeit - gleiche Struktur der Konflikte: Identifikation zwischen Anpassung und Widerstand. Mit empathischem Verstehen geben sich diese Frauen mehr Stabilität als durch dramatisches Aufbegehren. Berührend in der wortlosen Einheit nach der Vergewaltigung von Nouri durch ihren Verlobten. In der Resignation erscheint erscheint Stärke. Die von diesen Frauen Verlassenen sollten sie fürchten.   

(c) Klaus Commer - act 170410

 

30 Jahre Frauenfilmfestival in Dortmund

 

Den mit 15.000 Euro dotierten Internationalen Spielfilmpreis für Regisseurinen hat die Jury des diesjährigen Internationalen Frauenfilmfestivals in Dortmund VOIR DU PAYS (The Stopover) zuerkannt. Delphine und Muriel Coulin zeigen mit Virtual-Reality-Videotechnologie eindrucksvoll, wie sich Afghanistan-Heimkehrer*innen mit der im Kriegseinsatz durchlebten Gewalt auseinandersetzen.

 

Das Publikum wählte leichtere Kost. Es zeichnete die Sally Potters Satire THE PARTY  aus. Der Film, der am 27. Juli in den deutschen Kinos startet, hatte die Jubiläumsausgabe des 30 Jahre alten Dortmunder Frauenfilmfestivals am 4.4.2017 eröffnet.

 

Das heute im jährlichen Wechsel mit dem Standort Köln durchgeführte Internationale Frauenfilmfestival hat in diesem Jahr mit dem Fokus "IN CONTROL… of the situation / Alles unter Kontrolle" ein politisch und künstlerisch vielfältiges Programm präsentiert, das über 120 Filme aus 31 Ländern von 1906 bis 2017 zeigte.

 


Spieglein, Spieglein an der Wand

Buch Henryk M. Broder - Albrecht Knaus Verlag, München 2015, ISBN 978-3-8135-069-9 - 352 Seiten - Paperback 16,99 €

Der kauzige Nörgler Henryk M. Broder betrachtet die Nachrichten und findet sie ekelhaft. Sechs Monate kotzt er sich auf Bitten seines Verlages aus und wir sollen das bitteschön auslöffeln. Das ist nicht irre, sondern unappetitlich. 

"Dieses Buch hat sich wie von selbst geschrieben," sagt Satz eins Das glaube ich gern. Der Autor selbst hat sich jedenfalls nicht allzuviel Mühe damit gemacht. Sein "Liebes Tagebuch" ist logischerweise nur die Druckversion des alltäglichen Selbstmitleids eines Zeitzeugen, der den Hof und seine Schranzen benötigt, um sich selbst zu bespiegeln: Wieviel einsichtiger als all die Muttis und Steinis, wieviel wortgewandter als all die Regierungs- und Nachrichtensprecher bin ich?

Selbstverständlich hat er recht: In den sechs ersten Monaten des Jahres 2015 taucht niemand in seiner täglichen Geisterstunde auf, der durch Einfallsreichtum erschrecken oder durch Wortwitz begeistern könnte. Unterdessen gehen Deutschland und Europa vor den Hund.

Klar. Wer regelmäßig durch Nachrichten der Öffentlich-Rechtlichen säppt und im Online-Verschnitt der Presse lungert, muss es bald leid sein, all die nichtssagenden Wasserstandsmeldungen auszuloten. Was sollen Moderatoren und Korrespondenten als Ware Wahrheit verkaufen? Die einen wollen beruhigt, die anderen beunruhigt sein: Es ist heute wieder nichts passiert. Die Probleme dümpeln. Der Terror hat uns verschont. Die Griechen sind pleite. Deutschland ist reich.

An einigen Tagen hat Broder die Interviews, die sich wie Beipackzettel zur täglichen Schlaftabletten lesen, langatmig abgeschrieben. Wozu? Der Leser erinnert sich: Ja, wortwörtlich hat er das selbst gehört, gesehen, gelesen und nicht geglaubt. Und zuverlässig ist er am Ende der Lektüre des Beipackzettels eingeschlafen.

So hat fast alles seine Richtigkeit in diesem Buch. Den längst bekannten Nebenwirkungen der Kombipackungen von A(RD), B(RD) C(DU) bis Z(DF) und ähnlichen Substanzen muss man sich nicht täglich aussetzen. So irre ist der Erkenntnisgewinn nicht. Der Tagebuchschreiber vertritt erwartungsgemäß seine eigenen homöopathischen Meinungsstereotypen.

Netanjahu ist Israels Staatsräson in Person und kein Schlaffi wie Steini oder Mutti. Und Millionen Muslime in Deutschland sind alles andere als unsere potentiellen Finanzbeamten, Frauenärzte, Frisöre oder Fußballspieler. Falschparker sind sie mindestens, diese Islamisten und Salafisten. Wenn nicht sogar Schläferinnen und Schläfer hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen, viel tausendmal schöner als...

Big Broder, ja, wir wissen, dass genau die gerade alle hierzulande von dummen Gutmenschen willkommen geheißen werden. Nochmal sechs Monate Tage- und Nächtebuch brauchen wir dafür nicht.

(c) Klaus Commer / act 151026  


Von der Hand in den Verstand

Buch: Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert - Verlag C.H.Beck, München 2014, ISBN978 3 406 66051 I - 1252 Seiten plus 199 Seiten Quellen und Register - Gebunden 39,95 € 

Das ist ein "Wälzer", wie ihn in Zeiten der Informationshäppchen des Internets, nicht jeder zur Hand nehmen mag. Doch darin liegt ein besonderer Reiz: Warum nicht einmal an einer Reihe von Winterabenden oder während der nächsten Sommerreise versuchen, sich dieses vergangene Jahrhundert mit seinen katastrophalen Weltkriegen und dem millonenfachen Mord an den Juden Europas, der Spaltung in West und Ost, aber auch der zunächst überraschenden Wiedervereinigung ins Gedächtnis "am Stück" zu rufen.

Der 1951 geborene Autor ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg, wo er auch studiert hat, bevor er Lehrer wurde und sich in den 80er Jahren - unter anderem in Tel Aviv und Hamburg der Forschung zuwandte. Wichtige Themen waren für ihn bislang die Zeitgeschichte des Ruhrgebiets, der Holocaust, Biografien von Nationalsozialisten, der deutsche Umgang mit Ausländern und Fremdarbeitern.

Herbert teilt das ereignisreiche Jahrhundert nicht - wie viele andere Historiker -schlicht in die eine Hälfte mit den zwei Weltkriegen und die zweite mit der deutschen Zweistaatlichkeit, die in der friedlichen Wiedervereinigung mündet.  Er setzt beide Entwicklungen in Bezug. Er spürt auf, wie sich in diesem Land radikale Ideologien gegeneinander entwickelt haben, die marxistische wie die nationalistische. Zwischen zwei verheerenden Kriegen scheiterte die erste Demokratie. 

Nach 1945 erlebt Deutschland vordergründig die längste Friedensepoche der europäischen Geschichte - genauer: Jahrzehnte eines nicht militärischen Ringens im Kalten Krieg zweier Staaten. Der Sozialismus, manifestiert in der DDR, bricht wirtschaftlich zusammen, der westliche Kapitalismus, in den sich die BRD eingebunden hat, erntet 1990 die Wiedervereinigung und gerät mit Beginn des 21. Jahrhunderts in die Krisen des Geldes und des Globalismus.

(c) Klaus Commer / act 14003


Ein Kino ist kein Gotteshaus

Film: Noah - Filmdrama 2014 USA - Regie Darren Aronofsky.

Noah im Regen / Foto: Paramount Pictures
Noah im Regen / Foto: Paramount Pictures

Der Blockbuster “Noah” schickt einen braven Ökopax-Freak in biblische Vorzeiten An der Kasse des Multiplex-Kinos strömen mir die Besucher der Nachmittagsvorstellung entgegen. Der Kassierer entdeckt ein paar Freunde und will wissen: “Wie war’s?” Seine türkischen Kumpane zucken wenig begeistert die Schultern. “Geiler Film,” winken sie ab, “aber das ist halt alles gelogen…”

Beim Geplänkel im Vorübergehen erfahre ich, dass sie Muslime sind. Ob auch der Koran von Noah berichte, will ich wissen, aber der junge Mann ist sich da nicht so sicher: “Nö,” vermutet er. “Nicht von der Person Noah. Nur von der Zeit der Urfluten ist da die Rede.” In der Sure 11 ist freilich noch ein filmreifes Drama enthalten: Anders als in der Bibel verliert Noah laut Bericht des Propheten einen ungläubigen Sohn, der der Rettung per Arche misstraut. Als ich mit Verweis auf die Fatwa der al-Azhar-Uni zu Kairo scherze, dass die türkischen Jungs den Filmbesuch tunlichst hätten vermeiden sollen, murrt er zurück, dass auch die Juden und die Christen das Kino besuchen und über den Film meckern, weil er auch mit der Bibel nicht übereinstimmt.

Das Multiplex-Kino hinter dem Dortmunder Bahnhof ist seit dem 3. April für strenggläubige Menschen mehrerer Weltreligionen also ein Ort der Versuchung. Sie alle neigen bekanntlich dazu, die Weiten und Zeiten der Schöpfung durch die Brillen ihrer Religionen zu sehen und zu verstehen. Aber ein Kino ist bekanntlich kein Kirche, keine Synagoge, keine Moschee, sondern eher ein Tempel des Kapitals und der menschlichen Vergnügenssucht. Die Brille kostet zusätzlich und schafft eine dreidimensionale Wahrnehmung des Unglaublichen.

“Noah” ist selbstverständlich kein Dokumentarfilm, sondern ein kalkuliertes Produkt der Fantasie. Stopp! Von Fantasie sollte vielleicht nur die Rede sein, wenn wirklich eine ganz neue und utopische Perspektive aufbrechen würde. Aber im Kern folgt dieser “Blockbuster” (Wohnblock-Knacker) der gleichen Unterhaltungsmasche wie immer: Fürchte das Böse und atme auf mit dem Sieg des Guten. Da rücken die Mythen der Weltreligionen sehr eng zusammen mit den simplen Strickmustern des Wahrlich und des Widerlich im Event-Movie. Action pur, aber immer hart neben der Glaubwürdigkeit. Das ist das Erfolgsrezept auch dieses Films, über den die Macher schon ein paar Jahre vor der ersten Klappe nachgedacht hatten.

Der “Hollywood-Visionär” Darren Aronofsky, Sohn eines konservativ-jüdischen Lehrers und damals Ehemann der Oscar-Preisträgerin Rachel Weisz, deren von den Nazis verfolgte Eltern über England in die USA kamen, plante den aufwändigen Film gemeinsam mit seinem “kreativen Partner” Ari Handel, einem jüdischer Neurowissenschaftler und Autor. Er hatte jüngeren Jahren Wissenschaft und Allgemeinwissen zu versöhnen getrachtet. Wie er jetzt in Interviews verriet, nahmen die Freunde sich spätestens 2003 sich vor, die biblische Geschichte des Noah auf die Leinwand zu bringen. Die Apocalyse des World Trade Centers in New York steckte der Welt noch in den Knochen. er jüdische Glaube steht der Verfilmung des biblischen Sieges der Guten über die Bösen nicht entgegen.

Ein bisschen Bibel, ein bisschen Bühne

In den Abstammungs-Listen der Torah ist Noah zeitlich zehn Generationen nach Adam und zehn Generationen vor Abraham zu finden. Die Ursünde, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und Kains Brudermord waren passé, Gott sah nur noch in Noah einen getreuen Diener. Die Bibel beschreibt seinen Bund mit ihm, der nach talmudischer Tradition noch heute in sieben Geboten besteht, an denen sich alle gerechten Menschen orientieren. Das auserwählte jüdische “Volk Gottes” kann deshalb von jeder Missionierung absehen. Aber um religionsgeschichtliche Differenzierung und Diskriminierung geht es im Kino nicht.

Kalkuliert sind nicht nur die Eintrittsgelder jüdischer Filmfreunde, sondern auch die Billets der christlichen und muslimischen Fundamentalisten in USA und aller Welt. Die Filmproduktion der Paramount Pictures bekam beim US-Start am 28. März gerade aus evangelikalen Kreisen erst einmal Kontra. Bemängelt wurden, fast erwatungsgemäß, etliche Abweichungen vom strikten Wortlaut der Bibel. Solche Streitigkeiten gehören zum PR-Konzept. Die Empörten kommen ins Kino, weil sie empört sind.

Paramount gestand rasch die Banalität ein, dass der Film durch die biblische Geschichte von Noah nur “inspiriert” sei. So lockt man auch diejenigen gottlosen Besucher an, denen es am Ende - mit Altersfreigabe ab 12 Jahren - nur auf das happy End für die moralisch Mutigen und anmutigsten Mädel ankommt. So haben denn Aronofsky und Handel die Sage aus dem ersten Buch Mose einerseits weit ausgeschmückt und gleichzeitig erheblich eingedampft. Wie immer, wenn das ursprüngliche Drehbuch ein Wort Gottes gewesen sein soll. Was zunächst als Heilige Schrift nur die Vorstellungskraft der Frömmsten beflügelt, wird im Kino aufgeplustert zu einem dröhnenden Alptraum und Gottes-Klamauk.

Das Publikum überlebt den Unfug genussvoll, weil es sich in bequemen Sesseln hinter Popcorn und Colabechern verschanzt und die zusätzlich bezahlte 3D-Brille aufsetzt. So ist es leidlich geschützt vor den Bilder-Fluten der Vegetation, dem Lärm der fauchenden und schleimigen Tiere, vor dem Ersaufen in den aufbrechenden Wassern und vor den Attacken der in letzter Minute noch panisch zur Arche stürmenden schwarz-bösen Buben. Zugabe an Spannung gibt es, dass sich der Boss der fortgespülten Krieger noch als blinder Passagier auf den riesigen Kahn rettet und auf hoher See eine Sonderportion gottgewollter Prügel abbekommt.

Wie rührend, dass da bei der monatelangen Bootsfahrt auch noch Zeit bleibt, damit der Gutmensch Noah durch die überraschende Geburt von zwei Enkelinnen zum Opa heranreift. Der Ökopax Noah - Naturschützer, Vegetarier und Urvater der Friedensbewegung in einem - mutiert angesichts der emanzipatorischen Aufmüpfigkeit seiner Frau Naameh schließlich noch zum Frauenversteher. Die Menschheit kann samt seinen drei Söhnen Ham, Sem und Jafit sowie den Schwiegertöchtern und Enkelinnen trotz Gottes Zorn neue Hoffnung schöpfen.

Eine umstrittene Figur im Dilemma

Den wenig ermutigenden aktuellen Stand des zweitem Versuchs mit der Menschheit haben wir heute vor Augen. Wer sich nebbich an den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski und seine bitterbösen Essays erinnert, in denen Gott gewisse Ähnlichkeiten mit dem Diktator Stalin hat, kommt zu einem ganz anderen Ergebnis als Bibel, Koran und das Kino.

Er sieht Noah in einer Zwickmühle zwischen Gehorsam gegenüber Gott und Solidarität mit den Menschen: “Denken wir daran, dass wir uns den Mächtigen zuweilen liebedienerisch unterwerfen und die eigenen Genossen für sie verraten dürfen – aber nur dann, wenn wir mit absoluter Sicherheit wissen, dass das die einzige Möglichkeit ist, die ganze Menschheit zu retten. Bisher war Noah der einzige, der vor einem solchen Dilemma stand.”

Nur im Kino bleibt das eine immer unterhaltsame Geschichte mit vielem Wenn und Aber. Schon die zu tapsigen Lava-Brocken geronnenen Feuer-Engel als Torhüter des Himmels wirken einfach so lachhaft, dass sie als Monster auf eine Geisterbahn umsteigen sollten. Der Hauptdarsteller Russel Crowe aus Neuseeland verkörpert immerhin einen zunächst eher sturen Noah, dann weicheren und weiseren neuen Stammvater. Dem heutigen Zeitgeschmack ist geschuldet, dass sein Haupthaar sorgfältig mit auf Millimeter-Schnitt getrimmt ist, während die Damen auf der Leinwand hübsch und dezent ihre Eyeliner zum Einsatz gebracht haben. Dass Vater Noah seine Gottesfurcht durch Anlegen einer Art jüdischer Gebetsriemen unter Beweis stellt, hapert historisch ebenso, soll aber vielleicht als Gütesiegel gedeutet werden.

Das Zweite Deutsche Fernsehen hat am 11. April auf den Spielfilm mit einer informativen Dokumentation unter dem Titel “Mythos Arche Noah - Eine wahre Geschichte?” geantwortet. Wer sich nicht nur in den Filmrausch begeben, sondern auch nach dem möglichen realistischen Hintergrund fragen wollte, erhielt hier ein ganz anderes Bild.

Nach dem Wissensstand historisch-kritischer Theologie und den Forschungsergebnissen der Archäologie ist wahrscheinlich, dass die Geschichte der großen Flut aus dem babylonischen Raum stammt, dem heutigen Irak. Dort wurden vor mehr als 4.000 Jahren von den Sumerern literarische Epen um den Helden Gilgamesch aufgezeichnet, deren Inhalt der israelischen Oberschicht bekannt wurde, die sich vor 2.600 Jahren unter die babylonische Herrschaft zu begeben hatte.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden bei Ausgrabungen im Gebiet des heutigen Irak hunderte von Tontafeln gefunden, die erst zwanzig Jahre später durch einen Mitarbeiter des Britischen Museums entziffert wurden. Sie berichten auch von einer immensen Wasserflut in Mesopotamien, die sich in tieferen Lehmschichten mit Süsswasser-Sedimenten nachweisen lässt. Sie kann zusammengetroffen sein mit Schmelzwassern der Berge und anhaltendem Regen, eine Jahrtausend-Flut. Zu lesen ist dort von einer Familie, die auf einem Boot überlebte. Es wurde genutzt von einem reichen Händler, der wahrscheinlich Getreide, Bier und Vieh transportierte. Nicht über ein Jahr, wie es der Arche nachgesagt wird, aber sieben Tage lang.

Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Noah-Mythos legen nach Auffassung der heutigen Wissenschaftler den Schluss nahe, dass die hebräischen Schriftkundigen in Babylon mit großer Wahrscheinlichkeit die Erzählungen und Berichte der Sumerer übernahmen, als sie die als fünf Bücher Mose zur Torah zusammengefassten. Denkbar ist, dass der überlieferte Mythos von Noahs Gottestreue der Kern bildete, der mit den imposanten Bildern der Flut und der Arche, ausgeschmückt wurde.

Da im Althebräischen beispielsweise für den bekannten Erdkreis und für die ganz Welt das gleiche Wort gebraucht wird, können die Detailangaben der Geschichte durchaus unterschiedliche Dimensionen angenommen haben. Nicht in dieser Hinsicht ging es um Genauigkeit, sondern im religiösen Kern der Mosaischen Botschaft. Entscheidend: Die riesige Überschwemmung der damals bekannten Gegenden wurde gedeutet als Strafe für die ungetreue Menschheit. Gott holte mit Noah nur seine Getreuen ins Boot. Aus Kindern und Enkeln sprossen die Konflikte von Milliarden.

(c) Lukas Andel / act 14002


"Schnee von gestern" fordert Frühling

Film: Schnee von gestern - 2013 Dokumentarfilm Deutschland, Israel - Regie Yael Reuveny. 

Yael Reuveny
Yael Reuveny

Der Zeitgeschichtler David Ranan hat Ende 2013 ein Buch mit dem Titel “Die Schatten der Vergangenheit sind noch lang” veröffentlicht. Darin sind Gespräche mit jungen Menschen aus Deutschland vorgestellt hat, die sich allesamt hierzulande als Enkelinnen und Enkel von Juden eingerichtet haben, die direkt oder kurz nach dem Holocaust in diesem Land geblieben waren. In ihrem neuen Dokumentarfilm “Schnee von gestern” spürt die israelische Regisseurin Yael Reuveny mit ihren Mitteln der gleichen Thematik nach. Das gelingt ihr ausdrucksstärker und eindrucksvoller als dem jüdisch-britischen Autor, der 21 Interviews in kleine Selbstporträts verwandelt hat, die wie Streiflichter aufeinander folgen.

 

Der seit dem 10. April in deutschen Kinos zu sehende Streifen unterscheidet sich von vielen Dokumentarfilmen durch seine Eindringlichkeit. Er wurde beim internationalen Frauenfilmfestival in Köln außerhalb des Spielfilm-Wettbewerbs gezeigt. Die Besucherinnen und Besucher der renommierten Programmwoche, die jährlich wechselnd in Dortmund und in der Domstadt am Rhein stattfindet, belohnten die Präsentation von “Schnee von gestern” gleichwohl mit ihrem Pubikumspreis. Zuvor war die 2013 fertiggestellte Produktion schon beim “Haifa International Film Festival 2013“ sowie bei der “Dok Leipzig 2013” jeweils als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet worden, Das “Film-Festival Cottbus 2013” steuerte seinen Dialog-Preis bei. Und die deutsche Filmbewertungsstelle geizte nicht mit seinem Prädikat “Besonders wertvoll”. Die Wiesbadener Experten erklärten dazu: "Durch die persönliche Herangehensweise bekommt der Zuschauer den Eindruck, bei der Suche nach den familiären Wurzeln und Geheimnissen direkt dabei zu sein. Doch SCHNEE VON GESTERN ist nicht nur ein Film über die Vergangenheit, sondern vor allem ein Porträt über die Familie heute und deren Auseinandersetzung mit dem was war, dargestellt aus der Perspektive der dritten Generation nach dem Krieg."


Yael Reuveny, die, unterstützt von Jochen Wisotzki, das Skript schrieb und Regie führte, ist als Familienmitglied, das die Initiative ergreift, auch Selbstdarstellerin oder, besser gesagt, die Person im Fokus der Dokumentation, die auf jede Schauspielerei verzichtet. Es geht in keiner Minute um spannende Action, die vom Zuschauer verfolgt werden soll. Sondern dem Zuschauer wird ein leises Drama episch nahegebracht. Mit meist statischen Kamera-Blickwinkeln von Andreas Köhler tritt der Ablauf der Ereignisse fast in den Hintergrund  - ohne Schwenks hinschauend und hinhörend. Die Ereignisse verknüpfen sich nicht zu einer schlüssigen Lösung.

 

Es gibt vergilbte Bilder wie die aus den Fotoalben und versteinerte Inschriften auf alten und hellen Grabmälern. Für die Mehrzahl der Orte, Behausungen und Wohnstuben scheint keine Renovierung mehr möglich. Die melancholische Musik von Volker Bertelmann drängt, nur gelegentlich anklingend, nie zum Aufbruch. Sie begleitet den Beinahe-Stillstand.

 

Gesprochen und geschwiegen wird wechselnd hebräisch, deutsch, englisch, das öffnet die Ohren für die jeweiligen Schauplätze und Hörwinkel. Für das hiesige Publikum gibt es sicherheitshalber deutsche Untertitel als Leitplanken. Der Film bietet einen vollen und spannenden Kino-Abend. Besser noch kann man sich vorstellen, sich den Film ins Wohnzimmer zu holen und an einem ruhigen Abend die eigene Familie um den Bildschirm zu versammeln. Auf diese Weise würde der Familienkreis um einen mehr als anderthalbstündigen Besuch erweitert. Es könnte sein, dass die Gäste schon während ihrer digitalen Anwesenheit in ihren Gesprächspausen von den Gastgebern angesprochen werden. Mit Nachfragen, knappen Kommentaren, voreiligen Einwürfen oder unschlüssigen Bemerkungen. Im Kino würde das stören, im Wohnzimmer würde es der Einstieg in einen langen Abend werden.

 

“Schnee von gestern” setzt zwei Menschen mit gemeinsamer Kindheit und am Ende sehr gegensätzlichen Biografien zueinander in einen spannungsreichen Bezug. Die junge israelische Regisseurin gehört - wie die Gesprächspartner von David Ranan - zur dritten Generation nach dem Holocaust, dem ihre Großmutter Michla entkommen ist - wie sie glaubt, als einzige der Familie. Doch da gibt es noch das ungeklärte Schicksal ihres verschollenen Bruders Feiv’ke, mit dem für den Fall der Befreiung ein Treffpunkt in Lodz ausgemacht war, an dem er nicht eintraf.

 

Michlas Enkelin Yael, in Israel aufgewachsen, besitzt nur ein altes Famiienfoto, auf dem beiden Geschwister in jungen Jahren inmitten ihrer Mischpoke zu sehen sind. Erwachsen geworden bricht Yael nach Deutschland auf, um das Schicksal des Großonkel aufzuklären, von dem sie aus den Erzählungen der längst verstorbenen Großmutter weiß. Tatsächlch findet sich die Spur ihres Bruders, der Deutschland nicht verlassen hat. So werden im “Schnee von gestern” zwei Lebenswege als Alternativen deutlich, die der Dokumentarfilm nachzeichnet. Der “Schnee von gestern” bleibt dabei happyendlos eine Vergangenheit. Der Versuch eines familiären Zusammenhalts ist verpasst und gescheitert. Es braucht einen Neubeginn der nachgeborenen Generation.

 

Die Filmemacherin Yael Reuveny hat sich zu diesen Neubeginn nicht ohne intensive Auseinandersetzung mit der nicht mehr zu ändernden Vergangenheit entschlossen. Schon ihr erster kurzer Dokumentarfilm reflektierte 2009 “Erzählungen vom Verlorenen” (“Toldot Ha’Memutzachim”) die Suche nach dem in Europa verschollenen Bruder der Großmutter. Erst 1995 hatten sie und ihre Eltern erfahren, dass es Feiv’ke überlebt hatte, in Deutschland ganz in der Nähe des Lagers geblieben war, den Namen Peter Schwarz angenommen und geheiratet hatte. In Schlieben bei Cottbus, so hieß es, gab es noch Verwandte. Erst als die Großmutter gestorben war, begann die Familie mit Erkundigungen. Die Mutter hatte mehr Verständnis als der Vater.

 

Yael Reuveny tat dann für sich den entscheidenden Schritt, als die 2006 nach Berlin zog, wie so viele junge Leute aus Tel Aviv, auf die das neue Berlin nach Hitler und Honecker eine starke Anziehungskraft ausübt. Ihre Erfahrungen beschreibt sie jetzt Mitte April in einem Interview  für den Online-Dienst “berliner-filmfestivals.de” wie folgt: “Es ist eine sehr inspirierende, aber auch sehr verwirrende Begegnung, wenn Israelis in Deutschland ankommen. Ich habe viele Phasen durchgemacht und entdecke das auch in Menschen um mich herum immer wieder. Man fragt sich selbst: Was will ich von dir? Will ich, dass du dich entschuldigst? Will ich die Geschichte deines Großvaters hören? Will ich mit dir zusammen Witze darüber machen? Will ich bei jeder älteren Person anfangen zu grübeln? Das will ich alles nicht. Aber was will ich dann?”

 

Im gleichen Gespräch schildert sie auch, dass gerade die sehr zurückhaltende Kameraführung eben doch einen maßgeblichen Einfluss auf die Gespräche mit den Verwandten, Freunden und Freunden hatte. Reuveny über die Wirkung der meist frontal positionierten und für die Befragten unübersehbaren Aufnahmetechnik: “Eine Kamera ist manchmal wie ein Röntgengerät. Leute kommen auf mich zu und sagen: Wow, wir haben nie solche tiefgründigen Gespräche in unserer Familie. Aber die haben wir auch nicht. Wenn du eine Kamera irgendwo hinstellst, hast du eher das Recht, Fragen zu stellen. Fragen, wie: Mama, hat deine Mutter dich geliebt?, die man nicht am Abendbrottisch stellen würde. Es ist also kein Film, in dem die Kamera wie eine Fliege an der Wand ist. Sie nimmt eine zentrale Rolle ein. Der Film ist ja auch eine Reise, die ich als Filmemacherin gemacht habe. Ich glaube nicht, dass ich ohne die Kamera so weit gegangen wäre. Die Kamera hat die Realität meiner Familie auf jeden Fall verändert.”

 

Entscheidender ist wohl das Ergebnis der Recherche mit Kamera und Mikrophon. In ihrer ersten abendfüllenden Dokumentation sagt die Filmemacherin gleich in der ersten Szene zu den Eltern in Tel Aviv, sie fahre jetzt wieder “nach Hause” - gemeint ist Berlin. Dass sie dort mit ihrem Projekt noch einmal der noch immer nicht aufgeklärten Geschichte des Großonkels  nachgehen will, lässt für den Moment einen Krimi erwarten. Es bleibt letztlich die Dokumentation eines ungeklärter Falles, der aber doch bei den Beteiligten spürbar dazu beiträgt, die Vergangenheit ruhen lassen zu können. Der irreführende Titel “Schnee von gestern” trifft das vielleicht nur für die weniger emotional Beteiligten. Der englische Originaltitel “Farewell, Mister Schwarz” deutet besser an, dass dieser Film auch von Trauer und Abschied berichtet, die auch Fragen der Vergangenheit unbeantwortet lassen und den Blick auf das Kommende richten.

 

(c) Klaus Commer / act 14001