20. November 2017 - Regierungsbildung ist vorläufig gescheitert

Coitus interruptus

Statt Fraktionszwang: Such nach Mehrheiten für die Mehrheit

Christian Lindner kommt verschwitzt aus dem Rudelbumms. Er rechtfertigt kurzatmig den Abbruch des unflotten Vierers: Kein intimes Vertrauen hat er gefunden, keinen machtvollen Durchbruch. Kein erlösender gemeinsamer Lustschrei... Lieber kein Sex, hat sich Lindner rechtzeitig aufgeschrieben, als falscher Sex. So etwas kann passieren, erst recht, wenn das Ganze keinerlei Liebesgeschichte ist, sondern ein kalter und machtgeiler Kopulationsversuch. Hört auf, das Desaster schön zu reden oder gar von Verantwortung für den Abbruch zu schwafeln.

 

Die dickste Lüge ist, dass der Wähler irgendeine bestimmte Koalition gewollt hat. Bei der möglichen Wahlwiederholung mag das Ergebnis das gleiche oder ein anderes sein. Niemand hat die komplette und offenbar unergiebige Mandatsverteilung gewählt. Alle Wahlberechtigten hatten maximal zwei Stimmen, eine für den Wahlkreiskandidaten, eine zweite für die Landesliste einer Partei. Eine Verpflichtung, dabei eine Regierungskoalition mit vier Parteien, an eine starke Opposition oder auch nur einen wirkungsvollen politischen Protest zu programmieren, hatte niemand.

 

Dummes Geschwätz ist, dass eine Regierungsbildung ohne die der Oppositionssucht verfallene SPD und die politische Impotenz der AfD nicht möglich wäre. Auf das Profil der Parteien kommt es letzten Endes nicht an. Sie sind laut Verfassung nur dazu da, bei der politischen Willensbildung zu helfen.

 

Demokratie braucht zuerst eine funktionierende Gesetzgebung durch freie Abgeordnete: Nicht die Regierung braucht eine Mehrheit, sondern der Bundestag. Auch wenn die meisten Gesetze von der Regierung oder von Lobbyisten initiiert werden: Legislative ist allein das Parlament. Im Plenarsaal spielen sich die Entscheidungen ab. Hier brauchen Gesetze eine Mehrheit, nicht selten zusätzlich im Bundesrat. Im Parlament gibt es Sieger oder Verlierer, selten ein Unentschieden. (Über Trillerpfeife und Videobeweis verfügt das Verfassungsgericht).

 

In der Schule haben wir seit 1949 gelernt, dass die Regierung lediglich die Exekutive ist, die allerdings zwecks Gestaltungsfreiheit eine feste parlamentarische Mehrheit für vier Jahre zusammensucht. Die Regierungschefin, der Regierungschef hat aber nach dem ziemlich machtlosen Präsidenten, dem Parlamentspräsidenten, dem Verfassungsgerichtspräsidenten nur den vierten Rang im Staat, basta.

 

Heul doch, Lindner! Er jammert heute, dass es in der letzten Nacht noch 237 Dissenspunkte für die schwarz-gelb-grün-schwarze Wunsch-Koalition gab. Faule Säcke: Es gab bis zur nächsten Wahl auch noch fast vier Jahre Zeit, ebenso viele Lösungen zu finden. Heult doch, Schulz oder Nahles, dass ihr lieber in der Opposition eure Wunden leckt. Scholz scharrt schon mit den Füßen. Das alles riecht nach parteilicher Profilsucht oder Verlustangst. Mit staatsbürgerlicher Verantwortung hat das wenig oder nichts zu tun.

 

Merkel, die nur sich selbst als Programm hat, hielt heute nacht vor der Presse ihre Raute geschlossen. Die Grünen, eben noch von machtgeiler Komm-Promis-Bereitschaft triefend, schwiegen betreten. Die CSU noch verdattert, die Konsequenzen des Scheiterns für ihre Landtagswahl in München zu erfassen...

 

Staatstragend tönt es allenthalben, dass wir in schwierigen Zeiten leben und dass die eben Gescheiterten jetzt gebraucht werden. So what? Es kann ja sein, dass eine unendliche Zahl von Flüchtlingen unlösbare Probleme bringt. Aber sollte sich nicht - quer durch alle Parteien - im Bundestag eine Mehrheit finden, die Ausplünderung und Bombardierung der Ursprungsländer dieser Fluchten zu stoppen? Sollten sich nicht genügend Vernünftige allen Fraktionen des Bundestags finden, die den Ausstieg aus dem Soli mit der Einführung einer Vermögenssteuer für Superreiche verbinden? Sollte nicht eine ganz andere Mehrheit von Abgeordneten die Einsicht haben, dass die Arbeitsplätze im Braunkohleabbau aus Klimaschutz-Gründen abgebaut werden müssen? Es gibt auch keine Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung von Henkern, wenn die Todesstrafe abgeschafft ist.

 

Und wenn die digitale Produktion der Maschinen und nur nicht die Maloche von Menschen besteuert werden muss? Dann wäre schon etwas Geld in der Kasse, um Rentnern, Kindern, Arbeitern und Beamten eine erste bedingungslose Grundversorgung oder eine Bürgerversicherung zu bescheren. Dazu braucht es keine Koalition, sondern eine Mehrheit im Parlament.  

 

Gerade in der wachsenden Beklemmung durch krassem Neoliberalismus, Spätkapitalismus und America-First-Imperialismus wird man Fantasie entwickeln dürfen: Warum denn nicht mindestens für Monate oder ein, zwei Jahre eine Regierung, die Rückhalt findet bei den Vernünftigen in allen Parteien?  Die in unterschiedlichen Fragen auf immer neue Mehrheiten suchen muss. Das jedenfalls käme dem differenzierten Wählerwillen näher als der Wunschzettel in der Wahlkabine, der ein Christkind mit Fraktionszwang beschert. 

 

Nachtrag am 22. November: Meine Erststimme, mein persönliches Mandat hat am 24. September der SPD-Linke Marco von Bülow erhalten. Er spricht sich soeben im Mittagsmagazin für eine Minderheitsregierung aus Union und Grünen aus. An breiter Zustimmung des Bundestags für soziale Projekte wie die Bürgerversicherung, die Rente mit 63 etc. werde es nicht fehlen. Rüstungsstopp, keine Kriegsbeteiligung, Familiennachzug... Einiges mehr ist da doch vorstellbar. Daumen hoch, Marco.

 

© Klaus Commer, 20. November 2017 - www.klauszeit.de - Nachdruck mit Quellenangabe kostet nichts.

 


25. September 2017 - Wähler wünscht souverän unerwarteten Auftakt!

Freude, schöne Mehrheit funkelt

SAMPEL: Breite Koalition demokratischer Kräfte löst Mutti Merkel ab

Unser Auftrag als Souverän ist eindeutig: Macht eine Mehrheit jenseits von Mutti. Die Gewählten müssen sich und ihre Kräfte nur klug und mutig sammeln. Digital nennt man das: Sampeln! Das ist ein neues deutsches Wort, verwurzelt in der englischen Sprache, die bestes angelsächsisches Weltkulturerbe ist. Also: Sampel! Eine Ampel mit S vorneweg. Sozialdemokraten und das wahre Rot-Gelb-Grün. Alle Power des mobilen “Stopp-Achtung-Start!”. Einhalten! Nachdenken! Und los!

 

In Abgeordnetenzahlen: 153 Sozialdemokraten, 69 Linke, 80 Liberale, 67 Bündnisgrüne. Und, wenn sie will, die erste Blaue, die von der AfD rüberkommt. Kopf oder Computer mögen bitte zählen: Das sind 370 Vertreter unseres Volkes. Der Bundestag hat 709 Mandatierte. Wer zögert da noch, die Mehrheit zu bilden.

 

In die Opposition gehen die dicksten Verlierer und die gestrigen Gewinner, die eine Demokratie ohne Hass, ohne Geschrei und ohne historische Demenz noch ein wenig üben dürfen. Was bleibt, ist eine keineswegs große, aber außergewöhnlich breite und bunte Koalition der Mutigen: Ich-Starke und Du-Starke, souveräne Menschen, solide, solidarisch, frei, lebensfreundlich.

 

Noch hat die SPD die Hosen voll. Aber Schulz muss ja nicht Kanzler werden. Er merkt nicht einmal, dass er jetzt eine Mehrheit bilden kann. Er wäre auch nur ein kleiner Teil von ihr. Diese neue Mehrheit im Bundestag setzt sich aus allen links von der Union und der AfD zusammen, Sie kann sich ohne Ansehen der Parteibücher eine Person an der Spitze aussuchen, die das beste Charisma oder den klügsten Verstand hat, am besten beides zusammen. Charisma pur hat einer aus der gelben Ecke, Verstand hat eine aus der roten, nur um Beispiele zu nennen. Da eine mutige Mehrheit regieren soll, können wir mal vier Jahre auf die Egoismen der Machtbesessenen verzichten.

 

Der SPD sei gesagt, dass es ja edel aussah, wie sie auf die Große Koalition verzichtet hat, um der AfD die Führungsrolle in der Opposition wegzunehmen. Aber diese Rolle wird die CDU im Verein mit der CSU genauso übernehmen können.

 

Die unerwartet starke Koalition der neuen Mehrheit umfasst alle im neuen Parlament versammelten selbstbewussten und solidarischen Demokraten. Die Heimatlichen und die Weltoffenen. Sollten sie sich zu einer einzigen Fraktion zusammenschließen, wie es CDU und CSU 68 Jahre lang gemacht haben: Bitte schön.

 

Ja, klar, in dieser Mehrheit gibt es erkennbar extrem widerstreitende Kräfte. Doch Reichstag muss ja nicht Reichsnacht werden. Endlich erzeugt Reibung ökologisch und ökonomisch Wärme. Mensch, wach auf: Soll doch die Partei der Arbeiter den Arbeitsminister stellen und überzeugend für Gerechtigkeit sorgen. Nur zu, Schulz! Soll doch die Friedensministerin Wagenknecht heißen, falls wir die NATO nicht mehr brauchen. Das neue grüne Gesicht Robert Habeck kann voll auf Umwelt schalten. Jeder darf nicht das tun, was er will, sondern nur das, was er nachweisbar gelernt hat und kann.

 

Der demokratische Imperativ für Exekutive und Legislative heißt jetzt: Sampel! Tu-Wort, erste und zweite Person (Du und ich), Gegenwart. Jetzt. Zu Haus. Im Dorf. Im Land. Im Staat und Kontinent.

 

Im Internet (siehe wiktionary.org)  heißt es zum Stichwort Sampeln: “Aus bereits vorhandenen musikalischen Beiträgen etwas Neues mixen. Kürzere Titel bereits vorhandener musikalischer Beiträge bearbeiten und dann veröffentlichen.”

 

Da ist politische Musik drin: Freude, schöner Götterfunken. Die Gedanken sind frei. Freiheit, schöner Menschheitsfunke. Mehrheit, schöner Freiheitsfunke. Mut zur Mehrheit. Auftakt.

 

© Klaus Commer, 25. September 2017  www.klauszeit.de - Nachdruck mit Quellenangabe kostet nichts.


07.04.2017

Nach Giftgas-Toten: Völkerrecht bricht

Trump: God soll Ähmerica first blässen und dann den Rest der Welt

Kinder, Frauen, Männer sind in Syrien durch Giftgas gestorben. Die Zahl der Toten wächst gegen hundert. Ursache war keine Naturkatastrophe, sondern ein weiteres Kriegsverbrechen, das sofort aufgeklärt, angeklagt und verurteilt werden muss.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind schon einen Schritt weiter: Sie haben heute Nacht die Strafe vollzogen und ohne Mandat der Vereinten Nationen rund 60 Marschflugkörper auf eine Luftwaffenbasis des syrischen Staates abgefeuert. So berichten unisono die Nachrichten hierzulande. US-Präsident Donald Trump hat die Staatengemeinschaft aufgerufen, sich an der Bestrafung und Entmachtung von Bashar-al-Assad zu beteiligen. Da kein Mandat der Vereinten Nationen vorliegt, die sich einmal mehr mit der Konstruktion ihres Sicherheitsrates selbst lähmen, ist das Vorgehen der USA vom Völkerrecht nicht gedeckt.

 

Präsident Trump rechtfertigte sein Vorgehen damit, dass der vermutete Giftgas-Angriff die Sicherheitsinteressen der USA angreife. Nach eigener Definition bestehen diese darin, dass der nordamerikanische Staat ("America first") Weltmacht Nummer eins ist und bleiben muss. Der syrische Bürgerkrieg muss demzufolge in erster Linie entsprechend den hegemonialen Interessen der USA gesteuert werden. Russland, lange Zeit Weltmacht Nummer zwei, hat aber erkennbar das Interesse, in diesem Land zumindest einen Verbündeten zu haben und einen am Mittelmeer gelegenen Stützpunkt zu besitzen. Um diese beiden Pole hat sich ein Gewirr von staatlichen, pseudo-staatlichen und freiheitskämpferischen oder anders gesagt terroristischen Gruppierungen gebildet, die sich in allerlei unterschiedlichen Koalitionen tot schießen. Mit den Interessen friedlicher Syrer hat das nichts zu tun.

 

Der Angriff der USA richtete sich auf einen Flughafen der Syrisch-Arabischen Armee in der Nähe von Homs. Dieser ist angeblich komplett zerstört. Es soll nach westlichen Quellen mindestens fünf Tote geben, darunter zwei Zivilisten. Syrien und Russland geben an, dass nur 23 der 59 Raketen den Flughafen trafen, die übrigen seien zum Teil in umliegenden Dörfer explodiert, wo neun Zivilisten, darunter vier Kinder getötet worden seien.

 

Verschwörungstheorien zur Auswahl

 

Was den kürzlichen Giftgas-Vorfall angeht, stand bis gestern für alle Gegner der syrischen Regierung fest, dass das gewählte syrische Regime den von US-nahen Rebellen kontrollierten Ort Idlib per Luftangriff mit Giftgas attackiert hat. Assads Regierung und die russischen Verbündeten erklären dagegen, die syrische Luftwaffe habe kein Giftgas eingesetzt und werde dies niemals tun. Die Flugzeuge der attackierten, zerstörten und bereits wieder genutzten Airbase seien für Transport und Abwurf von Chemiewaffen auch ungeeignet. Grund genug also für die USA, den Verdacht der Beihilfe auf die Russen zu lenken. Das alles passt in das Wertekorsett des sich freiheitsliebend, demokratisch und verantwortungsvoll wähnenden Westens. 

 

Die andere Theorie gehört nicht in das Repertoire der führenden Medien hierzulande: Danach kann die syrische Luftwaffe bei ihrem Kampf gegen ihre vom Westen unterstützten Gegner in Idlib auch eine Werkstatt getroffen haben, in welcher die Verbündeten der USA Giftgas-Bomben hergestellt hätten, deren Substanzen freigesetzt wurden. Dies sei die Ursache für den Tod von annähernd 100 Zivilpersonen. Für die frühere Lieferung von Giftgas aus der verbündeten Türkei gebe es Indizien. 

 

Die deutsche Kanzlerin erklärte gestern noch vorsichtig, das manches für einen schuldhaften, aber noch ungeklärten Luftangriff mit Giftgas von Assads Seite spreche. Das müsse aufgeklärt werden. Heute zeigt sie sich - so ihr Sprecher - wie Trump plötzlich fest überzeugt, dass in Idlik ein Massaker der allein verantwortlichen syrischen Regierung zu beklagen ist. Dessen Verurteilung im UN-Sicherheitsrat sei durch ein Veto der Russen schändlich verhindert worden.

 

Der Kreis schließt sich und nimmt Fahrt auf: Die deutsche Regierung steht wieder fest hinter den USA. Beweise erübrigen sich. Ein Giftgas-Deal der Türkei muss nicht ins Kalkül gezogen werden. Das ist praktisch, weil die Türkei den Deutschen noch immer die Flüchtlinge vom Hals hält, die die Kanzlerin Merkel 2015 fast überrannt hätten.

 

Der russische Online-Dienst "RT deutsch" meldet, Israels Ministerpräsident Netanyahu fordere die Einrichtung einer Pufferzone vor der israelischen und vor der jordanischen Grenze, um den Iran und die Hizbollah auf Abstand zu halten.

 

Zum Nachtisch: Nachrichten vom Angriff

 

Der US-amerikanische Raketenangriff wurde während eines Gipfeltreffens von Trump mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi gestartet. Wie der amerikanische Außenminister später bekanntgab, informierte Trump den fernöstlichen Staatschef während des Gala-Diners in Florida von dem nahöstlichen Überraschungs-Coup. Damit wollte er offenbar eine erhebliche Verstimmung der chinesischen Staatsgäste vermeiden. China unterstützt unter anderem bei den Vereinten Nationen die Haltung Moskaus, die darauf gerichtet ist, eine Verurteilung von Assad zu verweigern, solange nicht die Fakten geklärt sind und seine Schuld bewiesen ist.

 Klaus Commer


29.01.2017

Gorbatschow: Sie laden zum Krieg...

Eine Erinnerung an US-Präsident Roosevelt aus aktuellem Anlass

 

Niemand regierte die Vereinigten Staaten von Amerika so lange wie er, Franklin Delano Roosevelt, kurz F.D.R. Als er starb, war er 4.422 Tage Präsident der USA. Als einziger hatte er, was bis 1951 erlaubt war, eine dritte und vierte Wahl gewonnen. Erstmals angetreten in der tiefen Weltwirtschaftskrise von 1932 hatte der New Yorker Demokrat sein Land isoliert nach vorn bringen wollen. Erst spät trat er in den Krieg ein, den Hitler entfesselt hatte. Doch am Ende war Roosevelt überzeugt, dass nur der Internationalismus einer globalen Partnerschaft der USA im Verbund mit neu konzipierten "Vereinten Nationen" eine friedliche Entwicklung voranbringen würde.   

 

“Sometime they`ll give a war and nobody will come”. Der Poet Carl Sandburg schrieb das 1936 in seinem Gedichtband “The People, Yes”. Damals war  Franklin Delano Roosevelt bereits der 32. Präsident der USA. Er war am 4. März 1933 vereidigt worden, fünf Wochen nach der Machtübergabe an den vorlauten künftigen deutschen Führer und Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin durch den Präsidenten und Kriegsgreis Paul von Hindenburg .

 

Roosevelt suchte sein Land aus der schweren Depression dieser Zeit erfolgreich mit einem “New Deal” herauszuführen. Der ungehemmte Wirtschaftsliberalismus wurde gebremst und deutlich mehr Sozialstaat eingeführt. Der seit 1921 durch Poliomyelitis teilweise gelähmte Politiker gilt vielen bis heute als einer der drei herausragendsten Regierungschefs neben George Washington und Abraham Lincoln. Er stammte wie seine Ehefrau aus der begüterten aristokratischen Familie Roosevelt, die aus Holland stammte. Er hatte Charisma, konzentrierte sich anfangs mit deutlich isolationistischen Tendenzen auf die sozialen Probleme seiner Landsleute, schuf erste Regelungen einer Sozialversicherung und eines Mindestlohns. Twitter war noch nicht erfunden. Aber während Hitler im "Volksempfänger" seine Propaganda verbreiten ließ, fanden die Botschaften von Roosevelts Kamingesprächen im Weißen Haus durch das Radio den direkten Weg zu den Fellow Americans.   

 

Sandburgs Vers passte in diese Zeit und zu diesem People. In Europa etablierten Hitler und Mussolini ihre totalitären Weltmacht-Phantasien. Roosevelt begann, weltpolitisch dagegen zu halten. Noch 1933 erkannten die USA die Sowjetunion an. Am 14. April 1939 forderte der Präsident - vergeblich - von den beiden Diktaturen in Deutschland und Italien eine Nichtangriffsgarantie gegenüber 31 europäischen Staaten. Der jüdische Flüchtling Albert Einstein warnte ihn Anfang August eindringlich vor der Gefahr der Entwicklung deutscher Atomwaffen. Knapp vier Wochen später bietet er gemeinsam mit dem französischen Premier Édouard Daladier und Papst Pius XII. Hitler eine Vermittlung an, um dessen dräuenden Krieg gegen Polen zu verhindern, der dann doch eine Woche später durch die Nazi-Deutschen vom Grenzzaun gebrochen wird.

 

Es gibt jetzt also Krieg und noch immer gehen die USA vorläufig nicht hin. Roosevelt erklärt die Staaten am 3. September 1939 für neutral. Sie werden erst zwei Jahre später, am 7. Dezember 1941 mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour - unvermeidlich? - in den Krieg gezogen. Sie sind damit neben der Sowjetunion der stärkste Partner in der Anti-Hitler-Koalition. Roosevelt muss nicht nur im Pazifik eingreifen, sondern auch in Europa, weil die Weltmacht USA jetzt nicht ihren geostrategischen Einfluss im Abendland verlieren will. Die Rote Armee gewinnt den Wettlauf um Berlin. Als Hitler am 30. April 1945 - jedenfalls nach allen seriösen Quellen - im Führerbunker seinem Leben das Ende setzt, ist auch sein Gegner, der US-Präsident Roosevelt seit 18 Tagen infolge einer Hirnblutung tot.

 

Vom Nationalsozialismus zu den Vereinten Nationen

 

Franklin Delano Roosevelt hatte in der Anti-Hitler-Koalition verstanden, dass der Faschismus und Nationalsozialismus nicht durch eine Weltmacht allein zu besiegen sein würden. Diese Einsicht führte nolens volens zur Akzeptanz und Anerkennung des sowjetischen Machtbereichs in Osteuropa. Stalin, Roosevelt und Churchill, gelegentlich ergänzt durch französische Repräsentanten, bildeten die notwendige Allianz der späteren Siegermächte. Da Hitler den Krieg “gegeben” hatte, mussten alle hingehen, um ihn zu beenden. Fatal genug: Selbst zur notwendigen Überwindung der millionenfachen Morde der europäischen und fernöstlichen Nazi-Achsenmacht hatten die west-östlichen Sieger keine andere Wahl, als ebenfalls sowohl schuldige Kriegsschwerverbrecher wie zahlreiche unschuldige Zivilisten zu töten. In Hamburg, Dresden, Hiroshima, Nagasaki und anderswo.

 

Das Recht aller freien Menschenskinder, ihr Leben in ihrer Region oder Nation zu leben, ist nicht wirklich durch Krieg zu schützen. Denn jeder Krieg tötet. Ein Krieg ist kein Spiel, das, wie Sandburg formuliert, gegeben wird, egal ob einer hingeht. Jeder Krieg ist Verbrechen. Und wenn es begangen wird, bedarf es aller Anstrengung, es mit friedlichen Mitteln zu unterbinden, ohne selbst zu töten und selbst zum Verbrecher werden zu müssen.

 

Die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg war geprägt von Perspektiven, die uns in Mitteleuropa gut sieben Jahrzehnte ohne konventionelle Kriege eingebracht haben: Der Kalte Krieg entzündete im Gleichgewicht des Schreckens keinen Weltbrand. Der Wiederaufbau der Zerstörungen und die Entwicklung des Fortschritts sicherten unsere Arbeitsplätze. Es hätte auch anders kommen können, der Globus blieb verschont. Vor allem in den ausgebeuteten Regionen des Kolonialismus und Imperialismus aber flackerten immer wieder neue Konflikte auf.

 

Die Neukonstruktion der Vereinten Nationen hat eine weiteren Spalt-Pilz institutionalisiert: Der Klub aller Nationen wird dominiert durch den Sicherheitsrat mit starken Privilegien der fünf ursprünglichen Atom-Mächte, die wiederum mit USA-England-Frankreich einerseits und UdSSR-China andererseits zu einem Stopp and Go im Wechselstrom der Ost-West-Spannung der Siegermächte des Weltkriegs sorgen. Weil beide Seiten ständig versuchten, sich strategische Vorteile zu verschaffen, kann Europa im atomaren Patt lange überwintern. Am Rande des Vulkans.


Der Atlantiker Schmidt oder die Friedensbewegung

 

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war die Sowjetunion überzeugt, ihre Position nur mit

einer Modernisierung ihres Arsenals an Mittelstrecken-Raketen vom Typ SS20 sichern zu können. 1977 drehte auch Helmut Schmidt, als Kanzler Nachfolger von Willy Brandt, der eine Wende in der Ostpolitik und deutliche Schritte zur Entspannung durchgesetzt hatte, an der Diplomatie- und Rüstungs-Schraube. Vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies regt er an, was am 12.12.1979 zum “NATO-Doppelbeschluss” wird: Gefordert wurde von den Sowjets eine massive Abrüstung. Alternativ wurde vom Westen eine militärtechnisch erneut überlegene Aufrüstung des Westens mit Pershing-Raketen angedroht.

 

Schmidt setzte so als Mitglied der “Atlantik-Brücke e.V.” auf eine erneute feste Bindung der Bundesrepublik an die Siegermacht USA. Die SPD folgte ihm dabei nicht: Als die Abrüstungsverhandlungen 1983 scheiterten, war Schmidt bereits durch Kohl mit einem Misstrauensvotum abgelöst und die SPD stimmte - im Einklang mit der Friedensbewegung - gegen den Doppelbeschluss. Die neue Mehrheit von Union und Schmidts Ex-Partner FDP setzte die Hochrüstung im Bundestag um.

 

Die deutsche Friedensbewegung, zu der 1981 und 1983, damals wenige Tage vor der Entscheidung, hunderttausende Teilnehmer kamen, versammelte sich damals erneut auch unter Sandburgs Vers, der nun gelegentlich falsch übersetzt und fälschlich dem kämpferischen Schreiber Bert Brecht angedichtet wurde: “Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.”

 

Historiker sind sich noch nicht einig: War das Ende der Sowjetunion acht Jahre später nun eine Folge ihres wirtschaftlichen Ruins durch die NATO-Nachrüstung? Oder war es die Einsicht des Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der im März 1985 überraschend in Moskau Generalsekretär des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei wurde. Er leitete unter den Losungen von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umwandlung) ein neues Verständnis des Kommunismus ein, das dann Ende 1991 nach knapp zwei Jahren Präsidentschaft von Gorbatschow in einem Kollaps der Sowjetunion endete. Russlands erster Präsident Jelzin verhökerte die wirtschaftliche Substanz, Putin löste ihn ab mit dem Versuch, die Scherben der kapitalen Großmacht zu kitten.

 

Gorbatschow? Auch einer der Väter der deutschen Wiedervereinigung. Auch einer, der die Osterweiterung von EU und NATO nicht verhinderte. Einer, der deshalb im Westen gefeiert und heute in Russland überwiegend verachtet wird. Einer, der wie viele umstrittene Politiker, den Friedensnobelpreis bekam: Aber nicht wie Obama als Vorschuss-Lorbeer, sondern weil er die Sowjetunion nach innen implodieren und nicht ein inem Heißen Krieg nach außen explodieren ließ.

 

Gorbatschow: Krieg löst kein Problem

 

Gorbatschow hat sich mit einem Beitrag im Magazin “Time” in dieser Woche - kurz vor dem ersten Schnupper-Telefonat zwischen dem neuen US-Präsidenten Donald John Trump und dem russischen Amtsinhaber Wladimir Wladimirowitsch Putin - an beide Machthaber gewandt: Es sei höchste Zeit, die weitere Militarisierung der Politik zu stoppen und das erneute Wettrüsten zu beenden. Der Moskauer Pensionär nannte Armut, Umweltschäden und Ressourcenverknappung, Bevölkerungswachstum und Migration als die drängendsten Probleme der Menschheit. Keines davon können mit Waffengewalt eines Krieges gelöst werden.

 

Der letzte Präsident der Sowjetunion, der bereits früher erklärt hat, dass er im Krim-Konflikt nicht anders entschieden hätte als Putin, hofft offenbar auf eine mit Trump gewachsene Chance, den Streit um die Ukraine zwischen den USA und der NATO einerseits und Russland auf der andere Seite beizulegen. Die Verhärtung der Fronten, die NATO-Verstärkung in Litauen und Polen, das war noch von Obama verfügt worden. Hillary Clinton lag auf gleicher Linie. Zum Wahlkampf gehörte es, Trump vorzuwerfen, dass er Russland naiv, leichtsinnig und nur an Geschäften interessiert  gegenüber trete. Tatsächlich erklärte es Trump zu seiner Devise, dass es jetzt allein oder vor allem um eine Reduzierung des weltweiten Terrorismus gehen müsse.

 

Die Gefahr eines unmittelbar drohenden Krieges sieht Michail Sergejewitsch Gorbatschow aber offenbar auch nach Trumps Wahl in Osteuropa. Im Schwarzen Meer sammeln sich Flottenverbände, in Polen und in den Baltischen Ländern sammeln sich US-Truppen und europäische Nato-Bataillone. Russland sieht sich massiv bedroht und verstärkt seinerseits die Westfront. Aha, wittert der Westen, da seht ihr, wie sie uns bedrohen. - Die alte Leier, angeleiert noch vom Establishment der Clintons und Obamas?

 

Das Telefonat zwischen Trump und Putin wurde am Abend des 28. Januars in Moskau und Washington zurückhaltend als positiv bezeichnet. Die bilateralen Beziehungen sollen auf “Augenhöhe” verbessert werden. Die Wirtschaftskontakte sollen wiederhergestellt werden, was wohl bedeutet, dass die Russland-Sanktionen gelockert werden könnten. Als Hauptfeind ist, so heißt es in den Medien, der “Islamische Staat” ausgemacht, der mit dem Terror-Kürzel “Daesh” umschrieben ist. Ja, über die Ukraine habe man gesprochen. Lies: Wohl vorerst ohne Lösungsansatz.

 

An diesem Wochenende verschreckt Trump, knapp eine Woche im Amt, die Weltbürger mit einem weitgehenden Einreiseverbot für friedliche wie für unfriedliche Menschen aus mehrheitlich muslimischen Staaten - von den besonders hartgesottenen Freunden und Feinden in Saudi Arabien mal abgesehen. Im jetzt ausgesperrten Nachbarland Jemen führt der Oberbefehlshaber Trump seinen ersten Strike aus: 14 tote Al-Kaida-Kämpfer und einen toten US-Soldaten zählte die Heeresleitung. Örtliche Quellen berichten von mehr als 30 Leichen, darunter acht tote Frauen und acht tote Kindern. 

Klaus Commer


20.01.2017

Bundeswehr rückt von Oberviechtach nach Litauen gegen Russland vor

Doch die USA haben ihren Präsidenten und Oberbefehlshaber ausgewechselt

 

In vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika ist die deutsche Bundeswehr am Donnerstag dieser Woche in Litauen einmarschiert. Jedenfalls die ersten von 500 Soldaten des Panzergrenadierbataillons 122. 150 weitere Brüder und Schwestern in Waffen stehen für Last-Minute-Manöver in Reserve. Ihre für sechs Monate weitgehend verlassene Grenzland-Kaserne in der Oberpfalz wirbt auf ihrer Website mit der Bundeswehr-Losung; “Wir dienen Deutschland professionell - weltweit”.

 

Das hört sich ganz anders an als der Männer-Sang zum Stiefel-Klang vor ungut 75 Jahren: “Und heute gehört uns Deutschland - und morgen die ganze Welt”. Im August 1939 hatte der nationalsozialistische deutsche Außenminister Ribbentrop in einem Nichtangriffspakt mit dem sowjetischen Staatschef Josef Wissarionowitsch Stalin ausgemacht, dass die baltischen Staaten auf immer zur Einfluss-Spähre der UdSSR gehören sollten. Litauen trat ein Jahr später der Sowjetunion bei.

 

Im Sommer 1939 überfiel Nazi-Deutschland in seiner überraschenden Osterweiterung Polen. Im Juli 1941 brach es den Nichtangriffspakt mit Stalin. Überfallen wurde mit der Sowjetunion auch das kleine Litauen. Ein halbes Jahr später war der größte Teil seiner jüdischen Bewohner ermordet. Erst Mitte 1944 gelang es der Roten Armee, das Land zurück in den Vielvölkerstaat zu holen, wo es bis 1991, also bis zum Verfall der Union mit Gorbatschows Abtritt verblieb.

 

Geist des Einheitsvertrages ist erloschen

 

Ost und West haben sich 1990/91 in den Friedensregelungen für Deutschland darauf verständigt, dass die US-geführte NATO den seit dem 2. Weltkrieg geltenden Abstand zum Machtbereich des russischen Bären halten möge. Viele Quellen deuten darauf hin, dass diese Bestandsgarantie der alten Machtbereiche der Nachkriegsordnung - von der deutschen Wiedervereinigung abgesehen - in den Vier-plus-Zwei-Gesprächen nicht verändert werden sollte. Das war eine offenbar mündlich mehrfach ausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass niemand daran dachte, sie in den Vertrag aufzunehmen.

 

Die NATO pfiff darauf und rückte dem russischen Petz bis 2008 mit drei NATO-Osterweiterungen auf den Pelz. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien gehören inzwischen zur EU und zum westlichen Verteidigungsbündnis unter US-Leadership. Gleichzeitig hat sich die sozialistische Union des Warschauer Paktes aufgelöst und in eine kapitalistisches Staatengemenge eigener Art verwandelt. Mit oligarchischen, geheimdienstlichen und demokratischen Machtfaktoren. Präsident Putin macht keinen Hehl daraus, dass er Russland wieder zur traditionsreichen Großmacht aufbauen möchte. Um das zu verhindern haben die USA beharrlich die Machtwechsel in Georgien und vor allem der Ukraine geschmiert. Ohne diese Nachbarn bleibt Russland eher allenfalls eine Mittelmacht.

 

Seit 1966 sind fast alle Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika den Ratschlägen und politischen Agenda-Entwürfen von Zbigniew Brzeziński gefolgt. Der 1924 in Warschau geborene Politikwissenschaftler sieht die USA als Weltmacht Nr. 1, deren geostrategische Interessen darauf gerichtet sein müßten, den Rest der Welt den eigenen Interessen unterzuordnen. Dies war der Blickwinkel von Freedom and Democracy im Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges. In diesem “Gleichgewicht des Schreckens” allerdings schlug Brzeziński meistens moderate Vorgehensweisen anstelle von Aggressivität  vor.

 

1999, zwanzig Jahre nach der Wende weg vom Kalten Krieg, votierte er aber zupackend für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien, um auf dem Balkan den westlichen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Nato-Osterweiterung trägt insgesamt seine Handschrift und sie folgt seinem Zeitplan. Lediglich zur Integration der Ukraine, die Heimat seiner Vorfahren ist, in den Westen setzte er Fragezeichen. Zu seinen Erfüllungsgehilfen gehörten prominente Akteure wie die US-Außenministerin Madeleine Albright und ihr deutscher Bewunderer Joschka Fischer

 

Brzezińskis Fokus ist zwar noch nicht primär auf die Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror gerichtet, gleichwohl aber immer an den Rohstoff-Interessen der USA orientiert. Auf Carter hatte er großen Einfluss, den Irak-Krieg von Bush junior kritisierte er scharf. Israels Interessen gegenüber dem Iran unterstützte er nicht. Obamas und Hillary Clintons Engagement gegen Lybien fand wieder seine Unterstützung. Aber immer wieder ist bis in die jüngsten Tage die Orientierung der USA am alten ost-westlichen Feindbild geblieben. Ein Raketenschirm gegen den Iran wurde in Tschechien positioniert, so dass Putin ihn als gegen sich gerichtet empfindet - ebenso wie den Aufmarsch des Oberviechtacher Bataillons in Litauen: Wesentlich übler muss Putin - im Ernst - natürlich die gleichzeitige Landung von fast 3.000 Stück Kriegsgerät samt US-Truppen in Bremerhaven aufstoßen, die in diesem Monat unverzüglich im südwestlichen Polen Stellung bezogen haben. Manöver? Vorwärtsverteidigung? Kriegsvorbereitung?

 

Machtwechsel in den USA

 

Zu Obamas und Brzezińskis abschließenden Bemühungen, den Weltmacht-Status der USA auf Kosten Russlands dauerhaft einzuheimsen, hätte die Machtübergabe an eine Präsidentin Hillary Clinton gepasst. Nun aber hat das doch nicht so extrem demokratische Wahlsystem der USA den Showmaster, Immobilienhändler und Milliardär Donald John Trump ins Weiße Haus gebracht.

 

Der politische Newcomer ist Enkel des deutschen Friseurs Frederick Trump, der 1885 mit 16 Jahren aus dem Flecken Kallstadt in der linksrheinischen Pfalz in die USA auswanderte, ein minderjähriger Zuwanderer, dessen verarmter Vater nach dem frühen Tod nur Schulden hinterlassen haben soll. Ähnlich wie Angela Merkel ließ die weiße US-Oberschicht arbeitswillige Wirtschaftsflüchtlinge bereitwillig ins Land. Nur sollten sie dort dabei helfen, die ursprünglich indianische Bevölkerung zu vertreiben und sich das Land anzueignen. Im Grenzgebiet zwischen Alaska und Kanada wurde Trump reich, weil er sich am am Rausch und Raub des Goldes beteiligte. Aber das in Klondike ist eine alte Geschichte.

 

Donald Trumps Inauguration als US-Präsident zwei Generationen später wurde von fiesem selbst  in wirren ersten Worten als Staatsoberhaupt als neues Zeitalter bezeichnet, in welchem dem amerikanischen Volk - was immer das sein mag - die Macht zurückgegeben werde. Sein schon im Wahlkampf immer wieder ausposauntes großmäuliges “America first” will er offenbar als Absage an eben jenes “Establishment” von Washington verstanden wissen, zu dem die Clintons und die Obamas seit Kennedy allemal gehörten.

 

Am Mittag des 20. Januars 2017 vereidigte also John Roberts, der Oberste Bundesrichter der USA den NATO-Skeptiker Donald Trump zum neuen Präsidenten des Landes und damit zum Oberbefehlshaber jener US-Truppen, die sich gleichzeitig in einigem Abstand von den Grenzen Russlands einfanden. Trump, der sich von mehreren christlichen und jüdischen Geistlichen segnen ließ, legte seinen Amtseid gleich auf zwei Bibeln ab.

 

Schon zwei Tage vor seiner Vereidigung hatte er sich in einem Interview mit “Bild” und “The Times” nebulös von der Kontinuität der Nachkriegs- und Vorkriegs-Nato abgesetzt, die er für “obsolet”, also erledigt oder künftig zweitrangig erklärte. Brzeziński, der 92-jährige Stratege, hat somit ausgedient. Donald Trump sieht in Europa keine Freunde, sondern säumige Zahler und die Asiaten allenfalls als lästige wirtschaftliche Konkurrenten, deren Waren mit Zöllen belegt werden müssen. Die billige Ware Mensch, die über die mexikanische Grenze in die USA strömt, soll vermauert werden. Brachiale Drohungen stößt Trump allerdings gegen den islamischen Terror aus, den er vom Angesicht der Erde verschwinden lassen will. Bei der Amtseinführung jedenfalls durfte kein muslimischer Beter auftreten. Immerhin: Auch wenn manche Christen die USA für “God’s own Country” und manche Juden dem nicht bibelfest widersprechen, war doch bemerkenswert, dass da ein Geistlicher einfach nur von der Bergpredigt des Jesuah von Nazareth redete, die so ziemlich das Gegenteil jeder chauvinistischen Selbstsucht zur Maxime macht. Okay, der Klu-Klux-Klan sieht das anders...

 

Die von Protesten in Washington und in anderen Ländern begleitete Machtübernahme kann sich als radikale Einführung eines nationalkapitalistischen Herrschaftssystems im Machtzentrum der USA erweisen. Das Kabinett des neuen Machthabers, der vorgibt, mit ihm habe das amerikanische Volk die Macht zurückbekommen, besteht ganz überwiegend aus einer noch nicht einschätzbaren Oligarchie von alten weißen Männern mit riesigen Geldvermögen. In seiner ersten Rede als Präsident vereinnahmte Trump seine Wähler und Nichtwähler als eine neue nationale “Bewegung” die das Land mit “America first” in den größten Egoismus aller Zeiten führen soll: Einen isolierten Nationalstaat, der die Welt beherrschen, sich aber gegen jede globale Verantwortung abschotten will.

Am folgenden ersten Arbeitstag, so melden - verlogen oder wahrheitsgetreu - die Medien, begann Trump, die Krankenversicherung des Volkes zu demontieren. Hunderttausende reagierten gesund.

Klaus Commer


08.01.2017

Unter Ausschuss des Rechtswegs

Schuldige und unschuldige Menschen zu töten bringt keine Ende der Gewalt

 

Nun töten sie wieder. Schon am frühen Morgen des 23. Dezembers streckte ein italienischer Polizist in Mailand den tunesischen Attentäter Anis Amri nieder. Vier Tage zuvor hatte er selbst mit einem Lastwagen neben der Berliner Gedächtniskirche zwölf Menschen getötet und an die 50 verletzt. Heute fand er in Jerusalem einen Nachahmer. Ein im Ostteil der Stadt lebender arabischer Israeli raste in eine Gruppe von Soldaten des jüdischen Staates. Er wurde noch im Tatfahrzeug erschossen. Ohne Details zu kennen: Die Mörder von Berlin und Jerusalem sahen sich im Einklang mit dem Willen ihrer Glaubensbrüder im “Islamischen Staat”. Beide Exekutionen fanden in den attackierten Staaten und Gesellschaften des Westens meist stillschweigende Billigung.

 

Hier und da auch erleichterte Kommentare. “Gott sei Dank, da gibt es keinen Prozess”, frohlockt  ein Nachbar auf der Straße über die finale Tat des italienischen Polizisten zuungunsten des tunesischen Attentäters. In der Schule hatte ich, ein knappes Jahrzehnt nach der Schließung von Hitlers Volksgerichtshof gelernt, dass wir jetzt in der Demokratie des freien Westens leben. Zur Klarstellung: Ich vergleiche nicht die nächtliche Polizeistreife von Milano mit Freisslers Mordwahn. Er schoss nicht - selber verängstigt - um sich, sondern köpfte seine Gegner mit dem Fallbeil. Ein Vorbild für Islamisten.  

Zu deren wichtigsten Merkmalen der freien Demokratie gehöre, so lernte ich, die Gewaltenteilung des Staates in die Legislative, die Exekutive und die Jurisdiktion. Die freie Presse  wird gelegentlich als vierte Gewalt erwähnt. Aber da gibt es Zweifel. Das Wort Presse beginnt deshalb jetzt vorsorglich mit der Vorsilbe “Lügen…” Und wer da meint, das Volk zu sein, spricht zunächst mal nur für sich.

 

Aufsehen und bundesweite Empörung löste im Sommer 1977 ein Nachruf auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback aus. Ein anonymer Meinungstäter, der “Göttinger Mescalero” hatte ihn nach der Bluttat der Roten Armee Fraktion im AStA-Blatt der dortigen Uni veröffentlicht. Der Autor provozierte die Öffentlichkeit mit der schamlosen Behauptung, er habe bei der Nachricht von Bubacks Ermordung eine “klammheimliche Freude” empfunden. Das Zitat wurde von der Presse begierig aufgegriffen und mit lüsterner Empörung verbreitet. Es hagelte Proteste und Prozesse.

 

Allerdings hatte die Presse - 1977 - sich die Äußerung des Mescalero ein bisschen zurechtgebogen und -gelogen. Die Presse verschwieg weitgehend, dass der Schreiber des Nachrufs wenige Zeilen nach seinem Gefühlsausbruch rational eine ganz andere Farbe bekannt hatte: Er bekannte sich auch in Abgrenzung zum militanten Staat zur notwendigen Gewaltfreiheit der außerparlamentarischen Opposition:: “Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.” (Später suchte “Mescalero”, der Deutschlehrer Klaus Hülbrock, das Gespräch mit Michael Buback, dem Sohn des Ermordeten).

 

Es folgte 1977 ein Herbst mit weiteren Anschlagen der “Roten Armee Fraktion” und ebenfalls unerbittlicher Reaktion der staatlichen Gewalt. Am 18. Oktober 2017 jährt sich zum 40. Mal die brutale Ermordung des bundesdeutschen Arbeitgeber-Präsidenten und früheren SS-Untersturmführer im Nazi-Deutschland Hans Martin Schleyer durch die gewalttätige RAF. Seine Entführung sollte der Befreiung der RAF-Gründer dienen, die im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Stuttgart-Stammheim ihre hohen Haftstrafen verbüßten. Eine ergänzende Flugzeugentführung wurde in Mogadischu von der Bundesregierung militärisch vereitelt. Schleyer wurde gleichzeitig in Frankreich erschossen, die Inhaftierten verübten noch in der gleichen Nacht Selbstmord. So die beschworene Lesart der Behörden.

 

Fragen wir uns selbst, mit welcher Betroffenheit wir auf Tod und Gewalt reagieren. Siehe dazu das obige Foto. Vor wenigen Monaten fand ich im münsterländischen Dorf Alt-Wulfen an einem Ehrenmal den Namen meines vor hundert Jahren geborenen Vaters Johannes Commer. Ich habe ihn  nicht kennengelernt, weil sein Leben 1945 - zwei Jahre nach meiner Geburt - von Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee per Artillerie beendet wurde. Nach dem Blutbad von Stalingrad war er an die Front geeilt. Dort tötete er vermutlich seinerseits Menschen, die Opfer des verbrecherischen Hitler-Faschismus waren, Soldaten, die ihre Heimat schützen wollten. Ein Heldentod?

 

Aus nationaler Sicht, in deren Blickwinkel Ehrenmale erbaut werden, gibt es diese Trauer, die aus naher Betroffenheit rührt und besonders schmerzt. Verteidigung, da geht es immer gegen die, die uns angreifen und uns bedrohen. Unausweichlich im eigenen Land. Mehr als fragwürdig am Hindukusch. Diese siegreichen  Rotarmisten haben mir den Vater genommen, welcher mit einiger Wahrscheinlichkeit selbst russischen Kindern den Vater nahm. Und die Täter der deutschen Rote Armee Fraktion ermordeten 1977 den Vater von Michael Buback: Nein - kein Anlass zu klammheimlicher Freude.

 

Es würde viele Bücher füllen, die Legitimation der Gewaltanwendung zu untersuchen. Schon die Römer entwickelten das Recht der Weltmacht, sich kriegerisch gegen alle zu wehren, die sich ihnen entgegenstellten. Das waren damals keine Nationalstaaten im heutigen Zuschnitt, sondern kleine Regionen. Im Bellum Gallicum überfielen die Römer nicht Frankreich, sondern sie mussten sich vermeintlich wehren gegen freche Gallier (Wir wissen nur von einem Dorf an der bretonischen Küste, deren Bewohner die aggressiven Römer ständig gewaltig vermöbelten, aber nach allen Darstellungen niemals töteten.)

 

Die Römer kannten die Todesstrafe und machten reichlich Gebrauch von ihr. Die Exekutive benutze sie auch im Zweifel. “In dubio pro reo” - das galt jedenfalls nicht, als der palästinensische Statthalter Roms, ein gewisser Pilatus, den jüdischen Gefährder Jesuah von Nazareth vorgeführt bekam. Nach fragwürdigen Zeugenaussagen sagte er: “Ich finde keine Schuld an ihm”. Doch die Jerusalemer wollten lieber die Begnadigung eines gewöhnlichen Verbrechers und überredeten Pilatus zur Hinrichtung des sonderbaren Wanderpredigers, der für Gewaltlosigkeit und Sanftmut auftrat. Er zog kein Schwert, sondern ließ sich angeblich freiwillig kreuzigen.

 

Der Schutz des Lebens hat bei den Menschenrechten höchsten Rand. Die Religionen sind sich weitgehend einig, dass es Gottes Wille sei, der Mensch solle nicht töten. Die heiligen Schriften - geschrieben von Menschen, die theologischen Dogmen und ethischen Vorstellungen Ewigkeitscharakter verleihen wollen - lassen Spielraum für Interpretation. Gottes Wort führen Kriegstreiber und Propheten der Gewaltlosigkeit allerseits im Munde. Dschihadisten, Kreuzritter, Besitzer des Gelobten Landes, noch keiner hat das Original einer göttlichen Lizenz zum Töten vorweisen können.    

 

Der arabische LKW-Fahrer, der heute wie viele palästinensische Attentäter zuvor, von Sicherheitskräften erschossen wurde, wusste gewiss wie Jeschuah, dass er den Tod finden würde. Das staatliche Monopol zu töten und zwar unter Ausschluss oder  Ausschuss des Rechtswegs, gilt in vielen Demokratien mit unterschiedlicher Rigidität. US-Präsident Obama ließ - mit deutscher Unterstützung in Ramstein - tausende Verdächtige in anderen Nationen samt ihren kollateralen Familien und Nachbarn auslöschen.

Die unverhohlene Genugtuung über Anis Amris Erschießung ohne vorherige Rechtsprechung ist für die Angehörigen der Toten von Berlin kein Trost. Der widerliche asymetrische Krieg unserer Tage ist weder auf der Seite der oft dem Islamismus zugerechneten Täter wie auf der Seite der Staaten und Bündnisse, gegen die sie Sturm laufen, ein gerechter Krieg. Militärisch oder wirtschaftlich: Es gibt keinen gerechten Krieg, symetrisch oder nicht. Wer Macht und Tötung einsetzt, um die “Seinen” zu schützen, muss sich fragen, ob und wieweit die anderen von uns bedroht sind.

 

Das schlichte Gegenargument, Unschuldsmenschen wie du und ich hätten doch anderen persönlich “nichts getan” und Selbstvorwürfe seien nur ein Riesenschritt zu fatalem “Selbsthass”, dieser Einwand mag verpuffen. Für uns als Nation insgesamt, für uns als Bündnispartner der Nato-Vorwärtsverteidigung gilt es nicht. Jeder von uns ist da beteiligt. Anruf genügt: Das Smartphone verbraucht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Seltene Erde Tantal und im Lithium-Ionen-Akku eine Portion Kobald, beides von Kindern in Afrika aus dunkler Erde gegraben und verkauft zur Finanzierung des kongolesen Bürgerkriegs, an dem wir als Nation gemeinsam verdienen. Unsere Freiheit zu telefonieren wird von der Bundeswehr in Zentralafrika verteidigt.

 

Ich habe am Ende kein anderes Argument: "Du sollst nicht töten," das kann nur für alle Menschen gelten. Ich kam glimpflich davon, weil meine 74 Lebensjahre so verlaufen sind, dass ich niemals meine Kinder oder mein Westfalenland oder Deutschland verteidigen musste. Ich bekam keine Order zu töten. Aber müsste ich nicht doch auf das Handy verzichten? Muss ich mich nicht den Kriegstreibern, die in dieser Woche die Panzer der USA in Bremerhaven ausladen, um sie im Baltikum zu Russlands Abschreckung in Stellung zu bringen, in den Weg stellen?

 

Der langjährige Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele hat die Bundesregierung noch vor Jahresende 2016 beim Generalbundesanwalt verklagt, weil sie in sich Ramstein mit der Bereitstellung von Logistik für die USA mitschuldig macht an strafbarem Mord und Völkermord. Manche rümpfen die Nase, er solle doch froh sein, dass die Freiheit unseres Landes und das Leben unserer Kinder geschützt wird. Ja - darüber bin auch ich froh. Und nicht nur klammheimlich. Aber ich stimme Ströbele zu. Um Mord an unseren Kindern zu verhindern, brauchen wir keine Henker ohne Gericht. 

Klaus Commer


01.01.2017

Das Nächste, bitte!

Selbstvertrauen und Nationalismus schließen einander aus

Der erste Neujahrsgruß kommt noch vor 23 Uhr Mitteleuropäischer Zeit aus Maputo in Mosambik. Das Selfie von Caroline und einem jungen Afrikaner hatte bereits eine Zwischenlandung bei Lines Mutter Angela im brasilianischen Curitiba hinter sich. Diese, mein in Dortmund geborenes Patenkind, schickt es mir - rechtzeitig zum Beginn des Bleigießens - auf mein taufrisches Handy weiter. Sinnbild für ein besseres 2017.

 

2016 war missglückt. Darin sind sich viele einig. Zum Ausklang hat es auch in unserem Familienkreis Debatten gegeben, dass es höchste Zeit sei für das Ende dieses Schaltjahres. Für notwendenden Wechsel. Dann sprach einer von uns unvermittelt aus, dass er jedenfalls jetzt die Alternative für Deutschland wählen werde. Selbstverständlich sei er kein Ausländerfeind, geschweige Rassist. Faktisch sei er Realist.

 

Merkel habe schon mit ihrer eigenmächtigen Öffnung der deutschen Grenzen im Jahr 2015 ein Desaster für Europa heraufbeschworen. Nur völlig naive "Gutmenschen" wie ich hätten dem Einzug der unkontrollierten Flüchtlinge auf den Bahnhöfen applaudiert. Selbstverständlich müsse jedem vom Krieg in Syrien und anderswo Betroffenen umfassend Schutz gewährt werden. Wir hätten große Flugzeuge genug, um sie ohne Strapazen aus den Trümmerfeldern abzuholen. Einige Tage in einem Zuwanderungslager seien dann keine Zumutung.

 

Aber inzwischen seien hunderttausende ins Land gelotzte Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Maghreb dabei, hierzulande das Leben nach unseren Werten zunichte zu machen. Das hörte sich nicht an wie schlichte Stammtischparolen. Offenkundig macht sich auch große Sorgen, wer differenziert auf die letzten Jahre blickt: Deutschland ist gespalten. An Merkels “Wir schaffen das” klingt schon das erste Wort wie eine Lüge. Mit ihrem “Wir” vereinnahmt sie alle, deren Vertrauen als Wählerinnen und Wähler sie nochmal geschenkt haben will. Der Rest ihres Satzes ist postfaktisches Pfeifen im Wald mit halb voller Hose.

 

Der Verlust an demokratischem und humanitärem Selbstvertrauen in diesem Land ist unüberhörbar. Wer als junger Deutscher die demographischen Zahlen kennt, wer lebensmutig selbst Kinder in diese Welt gesetzt hat, der hat seine Zweifel. Nicht nur in Dresden haben die Beschwichtigungen längst ihre Wirkung verloren. Die Jugendlichen im Ruhrgebiet, ohne Ausbildung und Perspektive, sind noch ärmer dran: Viele flüchten sich in große Klappe und “coole” Sprüche, in Sarkasmus oder gar blinden Hass. Anstatt endlich selbst anzupacken, halten manche schon Schulschwänzen für eine Mutprobe. So werden sie dann mal ein bisschen polizeiauffällig. Am Ende betteln sie bei Mamma kleinlaut um etwas mehr Taschengeld.

 

Ein Nullpunkt ist das nicht

 

Die Pastorentochter und Kanzlerin Merkel konnte und kann ihrer Mutterrolle in der Weltpolitik nicht gerecht werden. Die Kredite, die global an Bankiers, Spekulanten und andere Geldfälscher ausgezahlt werden, retten die Menschenskinder im Süden, im Nahen Osten und an den Schnittstelle zu Putins Machtbereich nicht. Unsere Kompensation für lebensgefährliche Fluchten auf Gummibooten und über die Hürden der Balkanrouten, sackt der undurchsichtige Erdogan ein. Vereint siegen beide in Syrien. Riad und Jerusalem laufen der Vormacht des Westens immer mehr aus dem Ruder.

 

Nein. Merkels Fehlinvestitionen bezahlen nicht nur die allein erziehenden Mütter und altersverarmten Rentner in Deutschland. Als Exportgroßmeister haben  wir noch Schäubles Tafelsilber zu verscherbeln, das von blühenden Insolvenzen im Ostens umrankt ist. Schon vor Hitlers verbrecherischem Beutezug war der Planet kolonial aufgeteilt. Nach 1945 wurden wir zwei Völker in Ost und West, die sich bereitwillig als Komplizen an die Ketten der geostrategischen Sieger legten, um selbst vom globalen Imperialismus zu profitieren. Der Westen konnte das besser.

 

Es war nur in diktatorischen Ausnahmefällen gesetzlich oder polizeilich verboten, diese Zusammenhänge zu verschweigen und zu verschleiern. Manche Dummbatze unter den AFD-Anhängern jaulen bei solchen Hinweisen auf, weil sie sich nicht schlicht auf Lügenpresse reimen und weil es großkotziger klingt, kritisches Geschichtsdenken gleich als deutschen Selbsthass zu brandmarken.

 

Viele Europäer, vielleicht auch die Vorfahren eines Donald Trump, flüchteten aus finanzieller oder wirtschaftlicher Not in das gelobtes Land der USA. Sie folgten - oft eingepfercht auf Unterdecks der 3. Klasse - auf der Atlantik-Route gen Westen. Nur die wenigsten hatten einen Asylantrag bei sich. Die Indianer setzen der Zuflucht der Weißen keine Obergrenze. Im 16. und 17. Jahrhundert kamen sie zu Tausenden aus Spanien, Frankreich und England. Sie rissen sich das Land unter die Nägel, als rechtlose und billige Arbeitskräfte importierten sie afrikanische Sklaven. Deutsche und Iren folgten vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, dann Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Rest Europas. Die indigene Bevölkerung des Kontinents hatte keine Chance. Die gewalttätigen Abendländer dezimierten sie auf etwa ein Prozent. Wer nicht von ihren überlegenen Feuerwaffen vom Pferd gepustet wurde, bekam Killerviren und verstarb an der Grippe.

 

Donald Trump verachtet viele Frauen. Er verspricht viele Latinos auszugrenzen. Viele Afrikaner schmäht er. Seine chauvinistische Großmäuligkeit punktet bei der Mehrheit der weißen Männern und Frauen der christlich-evangelikalen Schichten. Nur in desparatem Optimismus konnte man auch daran etwas Gutes finden: Der blanke Protektionismus seines “Make America great again” konzentriert sich zunächst auf die USA. Nuestra America, so konfus das klingt, soll sich selbst einmauern. Verdattert scheint für einen Moment das Establishment in Washington, die Kaste der Clintons, der weltweiten Eingreifer nach Brzezinskis Masterplan. Doch wider Erwarten bricht an der Wall Street Jubel aus.

 

Trumps Kabinett des Milliardäre, die am 20. Januar die Macht übernehmen, hat voraussichtlich keinerlei Ambitionen, als Verein vaterländischer Volkstribunen zu agieren. Das weiße Volk der Mittelschicht hat mit der Wahl voraussichtlich seine Schuldigkeit getan. Die Oligarchen-Clique wird sehr schnell lernen, welche Interessen sie zu bedienen hat, wenn sie nicht auswechselbar sein will. Schlimmer noch wäre, wenn sie eines Tages nicht einmal mehr abgewählt werden kann.

 

Klaren Kant zeigen

 

Kehren wir zurück in die heimischen Gefilde des Jahreswechsels. Ich höre mäßig amüsiert die Vorwürfe, auch ein schlichter Gutmensch der Sorte 68 müsse doch den Schaden für Deutschland zur Kenntnis nehmen, der da von CDU und SPD und GRÜNEN aufgehäuft sei. Also die AfD als große Aufmunterung im demokratischen System? Als kluge Köpfe, die den verlogenen Redaktionen endlich wieder nationale Interessen ins Stammblatt schreiben?

 

Ich denke, dass das Konzept des Nationalismus als siegreiches Heil-Mittel definitiv untauglich geworden ist. Auch wenn Vergesslichkeit zunimmt und Erinnern nervt. Entscheidender denn je ist diese Frage: Wie kann gelingt es, das Leben des Einzelnen in Einklang zu bringen mit dem Wohlergehen aller. Aller Menschen und nicht nur der Deutschen. Aller Natur und Kreatur.

 

Die entscheidende Perspektive: Das Menschenrecht des Einzelnen kann nicht verstanden werden als Teilhabe am Recht nur von allen Deutschen oder allen Europäern oder allen Weißen. Es kann nur beansprucht und gelebt werden als Norm für alle Menschen der Welt. In einer menschenfreundlichen und nachhaltig genutzten Umwelt. Final in einem noch immer unendlich geheimnisvollen Weltall.

 

Gern ein bisschen kleiner: Jeder ist sich selbst der Nächste. Aber noch keiner hat sein eigenes bescheidenes Leben retten können. Jeder Tag Leben ist an die ungewisse Zeit zwischen Zeugung und Tod gebunden. Vorher und nachher gibt es ewige Energie. Man kann diese einfache Wahrheit religiös deuten und differenzieren - aber wozu? Je weniger ich mich spekulativ mit einfältigen oder dreifaltigen Seinsformen Gottes aufhalte, desto deutlicher erscheint der Kern. Den Unfug der Jungfrauengeburt des Jeshua von Nazareth hat Gott vermutlich selbst nicht geglaubt.   

 

Die Indianer im Sprachraum des Algonkin, zu deren Werten die Idiome Makwa, Xitsonga oder Sena gehörten, brauchten die lateinische oder griechische und aramäische oder hebräische Bibel ihrer weißen Mörder ebenso wenig wie wir in den gottlosen Einkaufsstraßen auch noch eine salafistische Auslegung des Koran benötigen. Mission possible, aber unnötig. Die Indianer verehrten bereits Manitu. Das war ein zentraler religiöser Begriff, der ein allumfassendes Geheimnis und die Kraft aller Kräfte bedeutete. Eine päpstliche Glaubenskongregation für das Kleingedruckte brauchten sie nicht.


Im neuen Jahr möchte mehr über Manitu erfahren. Als ich vor Jahrzehnten die Kirche und ihr Dogmengebäude verlassen habe, war ich nicht schlauer und nicht gläubiger geworden. Vertrauen erscheint mir sicherer als eine Überwachungskamera. Ich möchte das Geheimnis des Lebens und Sterbens, die Ahnung der bleibenden Kraft nicht in Bildern auflösen, sondern in meiner Nähe bewahren. Vieleicht also Selbstvertrauen in Gottvertrauen ohne ein Wissen von Gott.

 

Der, die oder das Nächste.

 

Jeshua hat das in jüdischer Tradition gleichgesetzt: Liebe deinen Nächsten. Das ist das Gleiche wie Gott zu lieben. Und ein Blick in viele Religionen bestätigt: Du lebst richtig, wenn du die Menschen deiner nahen Umgebung liebst. Wenn du sie schützt, mit ihnen teilst, ihnen Anerkennung zukommen lässt, an ihrer Seite bist, wenn sie dich brauchen. Selbstverständlich: Deine Kinder, deine Eltern, deine Wahlverwandten zu Nächst. Aber auch jeden, der dir nahe kommt und den du heran lässt an dich. 

 

Oft genug ist somit den Deutschen ein Deutscher der Nächste. Auch unsere Nachbarn und Zeitgenossen brauchen Arbeit, Unterhalt und Fürsorge. Das ist selbstverständlich ein Motiv, in nationalen Kategorien zu denken. Nationale Grenzen bestimmen das Dasein, die Muttersprache, das Sozialversicherungssystem und das Wahlrecht, die Währung und den Warenfluss, die Alterspyramide und die Friedhofsordnung. Selbst Geheimdienste und der Wehrdienst sind überwiegend national organisiert.

 

Das große Aber: Der oder die Nächste ist nur eines immer - ein Mensch. Es macht keinen Unterschied, welcher Nationalität er ist und welchem Glauben sie anhängt. Kants kategorischer Imperativ gilt nicht nur für evangelische Christen oder preußische Beamte. Seine humanistische Aufklärung sagt, dass du am besten so handelst, dass deine Maximen auch für alle anderen Menschen und jede andere Zeit gelten können.

 

Selbst wenn jetzt Milliarden Menschen zu uns kommen, um von uns ihren Anteil am gestohlen Reichtum der Welt einzuklagen, reicht es nicht, uns in der Presse vorzulügen, dieser heutige Befreiungskampf und Terrorismus entstamme einer verabscheuungswürdigen islamistischer Gewaltreligion und habe nichts zu tun mit den geopolitischen Raubzügen des krebskranken und schon vom Tod gezeichneten Kapitalismus.

 

Wer in Ramstein wahllos verdächtige Islamisten und kollateral fröhliche Hochzeitsgesellschaften mit Tod aus den Drohnen auslöscht, ist Handlanger von Mördern. Wer mit dem Auto mordet, fordert die Sicherheitskräfte heraus, von ihren Schnellfeuerwaffen todsicher Gebrauch zu machen. Wir schützen uns selbst unter den christlichen Werten: Du sollst töten.

 

Ich habe keine Alternative zu bieten. Erst recht keinen deutschen oder europäischen Selbsthass. Es wird noch Jahrhunderte dauern, bis jede und jeder überall auf dem Globus ein würdevolles Leben leben kann. Die Dortmunder werden ihre eigenen Straßen reparieren. Es sind ihre Nächsten. Die Westfalen kommen zu ihren afrikanischen Stars in das schwarz-gelbe Fußballstadion. Es sind ihr Nächsten. Der eine findet Arbeit gleich um die Ecke. Er will zu Hause leben. Der andere handelt für eine Firma in China. Er denkt und lebt bereits global und nicht national.

 

Meine Nächsten sind oft genug Deutsche. Aber ich habe mit Menschen aller Kontinente eine werte Gemeinschaft. Ich werde sie nie alle gleichzeitig bei mir beherbergen. Aber in einer Stunde der Not könnte ich aber keine Obergrenze ziehen. Ich müsste mich mit allen Kräften arrangieren.

 

Zurück zu Carolines Gruss aus Maputo. Die junge Frau aus Brasilien geht für einige Wochen nach Mosambik, um in einem Waisenhaus zu arbeiten. Sie spricht Portugiesisch wie ein Teil der Kinder in diesem afrikanischen Land. Selbst der Kolonialismus der südeuropäischen Eroberer hat einen gemeinsamen Werte hinterlassen.


26.11.2016

...o muerte!

Fidel Castro Ruz ist in seinem 90. Lebensjahr gestorben

Nun doch. Die Medien melden den Tod des Máximo Líder. Fidel Castro Ruz, der die Insel Cuba über ein halbes Jahrhundert geprägt hat, ist am gestrigen Abend nach einem Jahrzehnt schwerer Krankheit gestorben. Das gab sein fünf Jahre jüngerer Bruder Raúl in Havanna bekannt.

 

"Fidel kämpft" hat Rainer Hachfeld schon vor Jahren seine Karikatur für das Cuba-Journal tituliert. Und Fidel sieht einmal mehr wie der Sieger in der scheinbaren Alternative "Patria o muerte" aus, die Che Guevara 1956 zu Beginn der Revolution ausgerufen hatte. Das Leben Fidels für den cubanischen Sozialismus, wie er ihn patriotisch geprägt hat, und sein ganz persönlicher Tod sind nicht zu trennen. Es gab kein "Oder", sondern nur die natürliche Abfolge.

 

Sein aus Spanien eingewanderter Vater, ein wohlhabender Gutsbesitzer im Dorf Mayarí in der Provinz Oriente, machte sein am 13.08.1927 geborenes Kind Fidel heimlich ein Jahr älter, als er es zur Jesuitenschule nach Santiago de Cuba schickte. So konnte der greise Revolutionsführer am 13. August 2016 noch seinen angeblichen 90. Geburtstag feiern.

 

Der katholische Schüler setzte sich früh mit den harten Lebensbedingungen seiner Landleute auseinander und entschied sich für ein Studium der Rechtswissenschaft in Havanna. Mit fast 27 Jahren führte der junge Rechtsanwalt bereits den Sturm einer Rebellengruppe auf die Moncada-Kaserne in Santiago an. Er war überzeugt, dass eine Befreiung der Insel aus dem Machtbereich der USA und den Händen des korrupten Battista-Regimes nur mit Gewalt möglich sein würde. Der Versuch scheiterte, zwei Jahre Haft und Zwangsarbeit waren die Folge, bevor er nach Mexiko ausreisen konnte.

 

Dort gelang es ihm rasch eine Guerilla-Gruppe zusammen zu stellen, mit welcher er im Dezember 1956 wieder im Süden Cubas mit der Jacht "Granma" landete. Die von vielen Bewohnern der Bergregion unterstützen Rebellen benötigten zwei Jahre, um in den Norden vorzudringen und Anfang 1959 in Havanna einzuziehen. Fulgencio Battista hatte sich überstürzt davongemacht. Eine bürgerliche Übergangsregierung hielt sich nicht an der Macht. Noch im gleichen Jahr übernahm Fidel Castro Ruz das Amt des Ministerpräsidenten.

 

Das Ende der Kolonie der Vereinigten Staaten war der Anfang des revolutionären Cubas. Viele der Reichen und bislang Herrschenden flohen nach Florida. Mit CIA-Hilfe versuchten die Exil-Cubaner 1961 an der Schweinebucht eine Rückkehr, die von den Cubanern erfolgreich abgewehrt wurde. Die rasche und rigide Isolierung der Insel durch die USA trug zu einer schnellen Hinwendung der cubanischen Revolution zur marxistisch-leninistischen Staatsdoktrin bei. Diese Entwicklung kulminierte Anfang September 1962 mit der dramatischen Zuspitzung des Kalten Krieges in der Cuba-Krise. Die UdSSR konnte hier vorübergehend Atomraketen in unmittelbarer Nähe der USA stationieren. Kennedy und Chruschtschow einigten sich auf den Abzug der Nuklearwaffen auf Cuba und den gleichzeitiger Abbau von Atom-Waffen der USA an der türkisch-sowjetischen Grenze. Die USA verzichten auf Dauer auf eine Invasion, setzten die Insel aber fortan mit einer Handels-Blockade unter Druck, die bis heute nicht völlig beseitigt ist. Die Losung lautete nun oft auch "Socialismo o muerte".

 

Mag sein, dass gerade diese Sanktion der Blockade dazu beigetragen hat, den eigenen Weg der von Fidel geführten Revolution auch über den weltweiten Niedergang des Sozialismus hinaus fortzuführen. Auf der einen Seite konnte Cuba Alphabetisierung, Bildung und Gesundheitsfürsorge mustergültig für viele von Kolonialismus und Imperialismus ausgepowerte Länder ausbauen. Zum anderen gelang es dem charismatischen Fidel einen großen Teil seiner Landsleute immer wieder zu motivieren, die ökonomischen Leidenszeiten zu durchstehen. Zum dritten wurde der weitgehende Verzicht auf privates Wirtschaften, auf Parteiendemokratie nach westlichem Muster und intellektuelle oder künstlerische freie Entfaltung über den von der Revolution gesetzten Rahmen hinaus im Fidelismo unnachgiebig durchgesetzt. Nicht wenige Cubaner verließen deshalb die Insel. Andere wurden eingesperrt oder in ihrer Arbeit kaltgestellt. Auch auf Cuba tötete die Revolution einzelne ihrer Kinder und etliche Gegner.

 

Fidel Castro war bis zu seiner Erkrankung 2006 Gaudillo, Landesvater, Partei- und Regierungschef, Vorsitzender der Staatsrates in einer Person. Der Argentinier Ernesto "Ché" Guevara, der 1965 die Insel verlies, um die Revolution in Bolivien voranzutreiben, war wohl ebenso populär. Weitere Revolutionäre der ersten Jahre blieben geachtet, wenige entzweiten sich. Jüngere Reformer - etwa auf dem Gebieten der Außen- und Wirtschaftspolitik - fanden in diesem System des Fidelismus wenig Förderung und kaum Aufstiegschancen. Dass Fidel 2006 seinen Bruder Raúl, den Armeegeneral und damaligen Vize- Vorsitzenden des Staatsrats, zu einem persönlichen Stellvertreter machte, der dann 2008 die volle Gewalt übernahm, wirkte wie eine Vorsichtsmaßnahme. Offenbar traute Fidel den nachrückenden Reformern nicht und setzte in dieser Zeit des Umbruchs auf die familiäre und revolutionäre Bindung sowie die Bewahrung des Status Quo durch militärische Sicherheit.

 

Raúl hat in den letzten Jahren mit dem US-Präsidenten Barack Obama Wege zu einer neuen Verständigung beschritten, die sein Bruder Fidel aus dem Jenseits des Krankenzimmers eher skeptisch kommentiert hat. Die Wahl von Obamas Nachfolger Trump hat auf der Insel neue Befürchtungen geweckt.

 

Kolportiert wird heute in den Medien und Netzen, Fidel habe bereits 1973 einem Journalisten erklärt, neue Gespräche zwischen Cuba und den USA könnten frühestens in Gang kommen, wenn in den Staaten ein Schwarzer Präsident und in der Katholischen Kirche ein Lateinamerikaner Papst sei. Da dieses Zitat erst jetzt Verbreitung findet, dürfte es geeignet sein, dem erwiesen Sterblichen die unsterbliche Gabe der Prophetie anzudichten. Die Realität wird sich sputen müssen. 

(c) Klaus Commer 

 

 


9.11. 2016

Oh, Jesus! It's a Boy!

Kurz nach fünf morgens. Die Statisten auf dem Bildschirm - ratlos. Gerade sagt jemand, dass wir beim Elfmeterschießen sind. Alle sind entgeistert. Die Börse wackelt schon hinter verschlossenen Türen. Nur die Russen haben auf Begeisterung umgeschaltet.

Ein paar Elfer muss er wohl noch ins Tor des Weißen Hauses schießen. Aber dann ist es wohl nicht mehr zu leugnen: Die Demokratie feiert ihr hässliches Kind.

Erste Analysten wissen bereits, das mehr als 80 Prozent der Evangelikalen Christen die Wahl entschieden haben. Wie bei Bush. Das ist nicht so neu. Man nennt sie Wasps, Wespen. Das kürzt "White anglo-saxon Protestants" ab. Die konservative weiße Mittel- und Oberschicht hat sich mit dem wütenden Berserker Donald Trump noch einmal durchgesetzt. Im Kasperle-Theater tritt auf: Der Teufel!

 

Aber wählten die US-Bürger sozusagen gegen ihren eigenen Willen? Erstmal: Ein Desaster der deutschen und europäischen Medien, die monatelang nichts als Entsetzen über einen Kandidaten verbreitet haben, der nun offenbar in den USA ein Messias der besonderen Art ist: Das Unanständige, das Wütende des Populisten hat gesiegt. Geschlagen ist nicht nur die ungeliebte, als verlogen und kriegslüstern empfundene Hillary Clinton. Geschlagen sind alle, die geglaubt haben, zu einer offenen, multikulturellen, gleichberechtigten Gesellschaft gebe keine Alternative. Geschlagen sind von diesem fiesen Enkel Europas sogar die eigenen Parteigänger, die Republikaner, die sich im Wahlkampf angeekelt von ihm abgewandt haben. Doch Millionen wählen den Millionär. Die Kälber ihren Metzger.

 

Schock-Starre ist auf dem Bildschirm das Schlüsselwort. Noch fehlen die Kommentare der uns Regierenden. Verdattert wird die Häme der Populisten und Nationalisten in ganz Europa erwartet. Und die wirklichen Machthaber unter den Verlierern - die Bankiers und Rüstungsprofitmacher - halten sich noch verschreckt bedeckt.

 

Fatal genug: Die Krise des Westens, der Turbo-Kapitalismus hat die Weißen mit geringer Bildung, aber offenbar mit gehöriger Wut und Lebensangst an die Wahlurnen getrieben. Die Enkel der Pioniere, die nicht wahrhaben wollen, dass der Traum ausgeträumt ist. Ihr letzter Trump hat gesiegt und kann stabile Parlaments- und Gerichtsmehrheiten verbuchen. Was er daraus macht ist offen und noch nicht einschätzbar: Israels Regierung atmet auf. Trump will den Iran-Deal kippen. Putin atmet auf. Trump wird die NATO bremsen. Europa hält den Atem an. Trump will, dass wir für seinen Schutz zahlen.

 

Nur die mexikanische Zement-Industrie erwartet eine Hausse, Trump hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.

Lukas Andel

 


08.11.2016

Trommel, Pfeifen und Gewehr...

Die Verunreinigten Staaten von Nordamerika haben keine Wahl

Wer jetzt nicht aufschreit, soll für immer den Mund halten.

Die heutige Wahl in den Verunreinigten Staaten von Amerika verhöhnt Menschenwürde und Völkerrecht. Sie stürzt um, was ich in meinen Lebzeiten - nicht zuletzt von den Schutzpatronen der Bundesrepublik - zu lernen und voranzubringen versucht habe: die Demokratie als zur Zeit nach den Weltkriegen beste Regierungsform. Geteilte Macht, Partizipation aller, Lebenswürde für jeden einzelnen, ausgleichende Gerechtigkeit durch optimale Kollektive, dörflich, national und global.

Ich kenne weder Hillary noch Donald. Und ich gehöre nicht zum Wahlvolk. Aber es ist mir nicht gleichgültig, dass der nächste Präsident im Machtzentrum der Welt nun ein bulliger Flegel oder eine smarte Mörderin werden wird. Pervers geworden ist ein politisches System, das nur diese Alternative zulässt.

Wahlbeteiligung Null, bitteschön? Zu spät: Das Spektakel läuft schon. Es kann also doch sein, dass sich viele Millionen Wählerinnen oder Wähler an diesem Urnengang beteiligen. Und kaum einer, der die kluge Idee haben wird, Jill Stein zur ersten Präsidentin der USA zu wählen. Oder selbst die völlig aussichtslosen Kandidaten auf den Stimmzetteln durchzustreichen und widerrechtlich einen wie Bernie Sanders zu nominieren, der längst in diesem Machtkampf ausgeschieden ist.

Es mag ja sein, dass Hillary im Weißen Haus zur späten Einsicht kommt, dass nichts ihr erlaubt, die Regierungen anderer Länder auszuwechseln, mit heimtückischen Drohnen weltweit das Leben von Terroristen und Freiheitskämpfern auszulöschen oder im Namen der Wallstreet die Sklaven und Konsumenten, die Unter- und Mittelschicht ihres Landes wirtschaftlich zu strangulieren.

Es mag ja auch sein, dass dieser zum ungehobelten Monster stilisierte Donald doch noch in lichten Momenten oder unter Einfluss einer klugen Crew begreift, dass er seinen “American Dream” nicht pervertieren kann. Er muss natürlich nicht für die weißen Welt- und Geld-”Eliten” einschätzbar sein. Aber die Menschen, die er begrapscht und belügt und verachtet, lassen sich von ihm verarschen.

Hillary sei berechenbar, klugscheißen die einen, die offenbar mit Konjunkturprogrammen wie Krieg und Regime Change rechnen. Auf Donald können wir rechnen, benebeln sich die anderen, die an Father Xmess glauben und Putin nur für einen friedfertigen Input halten.

Demokratie ist Betrug, wenn das Volk keine Wahl hat. Das passiert heute in den USA. Die beiden Erstplazierten auf den Wahlzetteln, die heute einen grandiosen Endspurt als Mediengaudi aufführen, sind schon am Start disqualifiziert.

Lukas Andel


15.02.2016

Tödlicher Versuch, wirksam zu lieben

Heute vor 50 Jahren wurde der Priester und Guerillero Camilo Torres erschossen

 Es ist ein Gedenktag, der hierzulande von den Meisten vergessen ist. In Kolumbien allerdings ist Camilo Torres Restrepo neu in vieler Munde - jetzt, wo sich der Tag seines Todes zum 50. Mal jährt. Der Erzbischof von Cali, Darío de Jesús Monsalvo nennt ihn ein “Symbol der Versöhnung”. Staatspräsident Juan Manuel Santos lässt seine damals verschwundene Urne suchen.

Die Begegnung des römischen Papstes Franziskus (West) und Moskauer Patriarchen Kyrill (Ost), die am 13. Februar nach fast 1.000 Jahren Schisma um des Friedens willen neu zueinander fanden, ist mit dieser Erinnerung an Camilo Torres nicht vergleichbar.

Aber doch zu unterscheiden: Die Erklärung von Havanna spricht eine einhellige christliche Botschaft gegen den Kalten Krieg und die heißen Konflikte anlässlich der akuten Gefahr eines dritten Weltbrandes aus. Sie fordert insbesondere egozentrisch den Schutz der christlichen Gläubigen aller Konfessionen ein. Camilo Torres Restrepo ging es über die pastorale Sorge für die eigenen Schäfchen hinaus um Menschlichkeit für alle, die an Armut leiden.

Der katholische Priester hatte an der Universität im belgischen Löwen Soziologie studiert, damals der wissenschaftliche Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung der gesellschaftlichen Konflikte. Und der Werkzeugkasten für umfassende Bemühungen, allen Entrechteten und Ausgebeuteten Gerechtigkeit und Teilhabe am Reichtum der Schöpfung widerfahren zu lassen. Priester, die sich damals auch ohne theologische Heilsbotschaft für eine Verbesserung und Umwälzung der konkreten Verhältnisse einsetzten, mussten mit innerkirchlicher Verfolgung rechnen. Ihre “Theologie der Befreiung” geriet in den Verdacht einer kirchlichen Irrlehre.

Daraus zog Torres, der 1959 nach kurzer Tätigkeit in Berlin eine Lehrtätigkeit in Bogotá aufnahm und bald als Aufwiegler galt, klare Konsequenzen: Er ging aufs Land, um Agrarreformen voranzutreiben. Als Appelle zur Reform von Kirche und Gesellschaft ohne Ergebnis blieben, akzeptierte er seine Entlassung aus dem Priesteramt durch Kardinal Concha, um sich zunächst der Partei Frente Unido anzuschließen und 1965 in die von Christen und Marxisten gebildete Ejército de Liberación Nacional (ELN) zu wechseln. Wenige Monate später wurde der Guerillero bei seinem ersten Gefecht mit den kolumbianischen Regierungstruppen erschossen. Die Kirche verweigerte seine Bestattung.
Das Engagement von Camilo Torres wurde Ende der 60-er Jahre auch in Europa wahrgenommen. Es gab ein paar Bücher, Lieder, Filme, die noch heute aufzutreiben sind. Hier und da nahm eine Gruppe von Studierenden seinen Namen an. 

In der jüngsten Ausgabe der kirchenkritischen Zeitschrift “Publik-Forum” unterstreicht der Münsteraner Pastoraltheologe Norbert Mette, dass der Geächtete von 1966 ein halbes Jahrhundert später in seiner Heimat neu “entdeckt” werden könnte, um zur Versöhnung im zentralamerikanischen Kolumbien beizutragen: “In der Tat könnte das spirituelle, wissenschaftliche und politische Erbe des ehemaligen Priesters, der, als er keine andere Möglichkeit mehr sah, in den bewaffneten Untergrund gegangen war, hilfreich sein für die laufenden Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften (FARC). Wegweisend ist sein Vermächtnis für den anstehenden Neuaufbau der Gesellschaft. Denn Torres ging es darum, das Volk in Gerechtigkeit zu einen. 'Amor eficaz': wirksame Liebe zu und mit den Armen zu üben - das sah er als seine Berufung an.”

Mette zitiert den von Camilo Torres Restrepo 1965 verfassten “Aufruf an die Christen”, in dem dieser schrieb: “Das entscheidende Element am katholischen Glauben ist die Liebe zum Nächsten… Damit diese Liebe wahr und echt sei, muss sie wirksam werden… Ich habe die Vorrechte und Pflichten eines Priesters aufgegeben, aber ich habe deshalb nicht aufgehört, ein Priester zu sein. Ich glaube, aus Nächstenliebe habe ich mich der Revolution verschworen. Ich habe es aufgegeben, die Messe zu lesen, um in der Lage zu sein, den Nächsten zu lieben auf dem irdischen Feld der Wirtschaft und der sozialen Spannungen. Wenn mein Nächster nichts mehr gegen mich hat, wenn die Revolution durchgekämpft ist, dann will ich wieder die Messe lesen, falls Gott es so haben will.”

***

Die Nachrichten des heutigen Tages erwähnen den kolumbianischen Ex-Priester hierzulande heute nicht. In Syrien starben mehr als 50 Zivilisten durch Bomben und Raketen auf Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser. Die Russen geben den USA die Schuld - und umgekehrt. Welche Presse lügt? Militärische Macht gegen Menschen ist allemal tödlich.

KC


11.02.2016

Anmut sparet nicht noch Mühe

Ein gesellschaftskritischer Aufruf in Berlin lässt aufhorchen und zustimmen

Heute wurde in Berlin ein Aufruf veröffentlicht, der von einer breiten gesellschaftlichen "Allianz für Weltoffenheit" verfasst worden ist. Zu den Initiatoren gehören die bundesweiten Religionsgemeinschaften von Christen, Muslimen und Juden, Spitzenverbände der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, der Wohlfahrt, der Kultur, des olympischen Sports, des Naturschutzes. Soviel Einigkeit von renommierten Gutmenschen, die sich im Einzelfall dann doch mit Scheinheiligkeit, Ausbeuterei, Drückebergerei, Korruption oder Doping ihrer Klientel und ihrer Führungseliten auseinandersetzen müssen?

 

Da der Aufruf sehr weitgehend mit Gedanken übereinstimmt, die mir selbst zeitgemäß und notwendig erscheinen, gebe ich den Text unverzüglich weiter: Er ist es wert, bedacht, diskutiert und - ja! - in die Tat umgesetzt zu werden. Er enthält scharfe und richtungweisende Kritik der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland und Europa.

 

Ein guter Grund für diese Veröffentlichung liegt für mich nicht im breiten Konsens der Verfasser. Sie müssen sich fragen, ob der eine oder andere von ihnen nicht selbst zum gegenwärtigen Dissens der Gesellschaft beigetragen hat. Dennoch setzt der Text Wegmarken für eine bessere Zukunft: Leitmotiv meiner Wiedergabe soll deshalb der Titel von Bertolt Brechts Kinderhymne sein. Brecht, der gestern vor 118 Jahren in Augsburg geboren wurde, verfasste sie im Frühjahr 1950 als Gegenstück zum "Lied der Deutschen" in der Kindertagen der Bundesrepublik. Brecht:

  • Anmut sparet nicht noch MüheLeidenschaft nicht noch Verstand. Dass ein gutes Deutschland blühe wie ein andres gutes Land.
  • Dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin, sondern ihre Hände reichen uns wie andern Völkern hin.
  • Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein.
  • Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wirs. Und das Liebste mags uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.

KC


18.01.2016

Der Feind kämpft jetzt mit

Ende der Iran-Isolierung verstärkt die Front gegen den Islamischen Staat

Die Weltwirtschaft atmet für einen Moment auf. Am späten Abend des 17. Januars hat die Internationale Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) verkündet, der Iran habe seine Verpflichtungen aus dem Vertrag mit den 5+1-Mächten erfüllt. Unverzüglich wurden die Sanktionen gegen die nahöstliche Regionalmacht aufgehoben. An den Börsen rechnet man damit, dass 100 bis 150 Milliarden Euro, die jahrelang gesperrt waren, jetzt wieder in die Märkte fließen. Der iranische Präsident Hassan Rohani, seit Mitte 2013 im Amt, sieht eine goldene Seite in der Geschichte seines Landes aufgeschlagen.

Die fünf Veto-Mächte der Vereinten Nationen und Deutschland hatten jahrelang mit der Islamischen Republik verhandelt, die mit einem massiven Ausbau seiner Kernenergie um mehr Macht gepokert hatte. Offiziell wurde das Recht in Anspruch genommen, eine friedliche Nutzung der Atomspaltung für wirtschaftliche und medizinische Zwecke voranzutreiben. Erkennbar näherte sich das Land dabei jenen Anreicherungs-Linien, die auch für den Bau von Atomwaffen benötigt werden.

Vor allem Israel war es, das seit 1970 lauter und lauter Alarm schlug. Eine atomare Aufrüstung des Iran gefährde unmittelbar die Existenz des seit 1948 mit starker Unterstützung aus USA und Europa aufgebauten “jüdischen und demokratischen Staates”. Allerdings würde ein nuklear hochgerüsteter Iran keine einseitige Bedrohung für Israel bedeuten, sondern zunächst nur ein Patt. Israels atomare Bewaffnung würde im Nahen Osten keine Überlegenheit mehr bedeuten, die allen Nachbarländern bekannt ist und Respekt einflößt. Der Iran hätte, wenn kein Rüstungsstopp vereinbart worden wäre, gleichgezogen. Ein “Gleichgewicht des Schreckens” hatte nach dem 2. Weltkrieg jahrzehntelang zwischen Ost und West für ein fragiles Sicherheitssystem gesorgt, das allerdings mehrmals fast zum Großen Knall geführt hätte.

Die Kolonialmacht England und die Vereinigten Staaten von Amerika hatten einen anderen Blick auf das alte Persien. Der reiche Erdöl-Staat passte solange in ihr Macht-Puzzle, wie die westlichen Ölkonzerne dort Supergewinne erwirtschaften konnten. Das änderte sich, als 1951 die Ölindustrie vom Iran verstaatlicht wurde.  Dem populären Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh gelang es auch, die Kompetenzen des herrschenden Schah Mohammed Reza Pahlawi zu begrenzen und ihn zur Flucht zu bewegen.

Die USA waren jedoch an soviel Demokratie nicht interessiert und griffen ein. Sie sorgten 1953 mit der Geheimdienst-Operation Ajax für einen Regime-Wechsel. Schah Reza kehrte zurück und errichtete eine US-geneigte Autokratie. Dieser entzogen die Westmächte Anfang erst 1979 ihr Vertrauen. Der schiitische Ajatollah Ruhollah Chomeini kehrte aus dem Pariser Exil zurück, um die Islamische Republik zu errichten. Noch im gleichen Jahr brachen die USA die diplomatischen Beziehungen ab, als 400 Studenten die US-Botschaft stürmten und Geiseln nahmen.

Die jetzige Wiederaufnahme des Iran in den Kreis der geopolitisch positiv bewerteten Regionalmächte kann noch nicht abschließend bewertet werden. Deutlich ist, dass sich die schiitische Schutzmacht darum bemüht, den sunnitischen (und wahhabitischen) Vorrang von Saudi Arabien zu brechen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch.

Die USA und Europa, die nach dem Verhandlungserfolg vom Juli letzten Jahres nun die Friedfertigkeit des Irans feiern und dabei auf gute Geschäfte hoffen, halten sich mit geostrategischen Bewertungen zurück. Dabei liegen sie deutlich auf der Hand: Der Iran selbst hat - trotz der überlauten Warnungen aus Israel - seit Jahrhunderten keinen anderen Staat militärisch angegriffen. Er mischt aber durch finanzielle und waffentechnische Unterstützung von Aktivisten in anderen Ländern mit.

  • Im Irak fördert er schiitische Milizen gegen den “Islamischen Staat”, der in den arabischen Ländern auch “Daesh” genannt wird.
  • In Syrien zählt der Iran neben Russland zu den wichtigsten Stützen des Regimes von Baschar al-Assad und zu den Gegnern des Daesh. Der Westen, der angetreten war, um Assad und IS gleichzeitig zu beseitigen, wird nun Assad länger gewähren lassen und mit iranischer Verstärkung den Daesh bekämpfen.
  • Im Libanon unterstützt der Iran seit langer Zeit die Hisbollah-Milizen, die dort einen “Staat im Staat” bilden und immer wieder Israel attackieren.
  • Im Jemen steht der Iran an der Seite der schiitischen Huthi-Milizen, die wiederum aus westlicher Sicht von Saudi-Arabien verfolgt werden. Dabei hilft Israel den Saudis möglicherweise mit Waffen.
  • In Israel selbst wird der Iran nicht nur als bedrohliches Patt in der atomaren Bewaffnung gefürchtet, sondern auch als Verbündeter der Hisbollah, des Dschihad, der Hamas und der neuen Miliz Al-Sabireen.

So scheiden sich am Iran die Geister. Verteidigungsminister Moshe Ya’alon hat heute laut Ynet News erklärt, er wolle sich lieber mit dem Islamischen Staat, dem Daesh, anlegen als mit dem Iran. Eine Stellungnahme der Minister für Wirtschaft und Tourismus wurde nicht bekannt.

Klaus Commer / Wikipedia-Bild


10.01.2016

Gewalt im Schatten der Dome

Glaubenszweifel nach Prügel-Orgien und sexueller Nötigung

Die erste Woche des neuen Jahres hat alle Dämme brechen lassen. 2015 schien die Welt noch in Ordnung. Unsere Werte, die Werte des christlichen Abendlandes und der aufgeklärten Demokratie, hatten dem Sturm aus dem Südens und vom Nahen Ostens noch standgehalten. Bergpredigt und Grundgesetz galten noch.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, am Silvesterabend mit der Regionalbahn nach Köln zu fahren, um vor dem Hauptbahnhof und auf der Domplatte meine Raketen in den Nachthimmel der Hauptstadt des Karneval zu schießen. Aber dann dachte ich, ein Jahreswechsel sei wie der andere und blieb im finsteren Dortmund. Ein paar müde Kracher konnten die Säule auf dem Friedensplatz nicht zum Einsturz bringen. Ich ging zeitig zu Bett.

Wenige Tage später ahnte ich, dass ich der Hölle entkommen bin. Mein Medienpegel raunte ohne Unterlass Worte wie Gewalt, Diebstahl, Vergewaltigung, Schatten der Nacht, Bahnhof, Dom, Übel, Grauen und sogar Zivilisationsbruch in meine Ohren. Mag sein, dass sich noch süße Stimmen einmischten, die mit hellem Klang vom Christkindelein tönten. Ich hatte Ferien.

Doch das alles wuchs sich zu einem anschwellenden Chor aus. War nicht zunächst pianissimo von sechs Anzeigen die Rede gewesen und von zwei zu Unrecht Verdächtigten? Dann mezzoforte von einem entfesselten Mob, fortissimo von der Notwendigkeit zu sofortigem "Schluss jetzt" - Töne, die mir seit Monaten vertraut klangen. Aber vorgestern, am 8. Januar habe ich dann doch mal genau hingehört und hingeschaut, wohl weil das crescendo für einen Augenblick jäh abbrach.

***

Da war auf dem Bildschirm plötzlich eine ungewohnt nüchternde Pressekonferenz mit leisen Tönen. Ein Rechtsanwalt namens Ulrich Weber legte höflich und ohne jede Polemik eine Bilanz seiner bislang achtmonatigen Recherchen vor. Sie fassten einen schon mehr als 50 Jahre währenden Skandal ohne Gleichen in Worte. Im Umfeld des Regensburger (!) Domes habe es ein ein halbes Jahrhundert lang unglaubliche Gewaltexzesse und zahlreiche sexuelle Übergriffe auf das Leben von Kindern und Jugendlichen gegeben. Etwa 700 Jungen, vor und in der Pubertät, seien geschlagen, gezüchtigt, begrabscht und zu sexuellen Diensten gezwungen worden. Juristisch fällt hier und da das Wort Missbrauch, wo nicht einmal ein Gebrauch stattzufinden hat, sondern Jugendschutz.

Es geht um den seit einigen Jahren bekannt werdenden Skandal um die Regensburger Domspatzen. Der berühmteste Knabenchor der Welt ist ein Ensemble, das in vielen Jahrhunderten herangereift ist im katholischen Bayernland, fest verbunden mit der dort bodenständigen Kirche, dem frommen Bistum, dem tief verwurzelten Glauben.

Dass diese Jungs nicht nur, gewiss oft mit Stolz, eine Gemeinschaft von grandioser Musikalität werden konnten, die in Gottes-  und Konzerthäusern wundervolle Messen, Oratorien und christliche Lieder darbietet, ist einem Millionenpublikum bekannt. Manch einer wird ahnen, dass solche Leistungen nur erbracht werden können, wo dauerhafte Disziplin, ständige Übung und eine strikte Bindung in die Pflichten des Chores und der Kirche vorhanden ist.

Das Regensburger Bistum und die den Chor tragende Stiftung haben ihren "Domspatzen" genau dieses Nest gebaut. Zur Heranbildung der Gemeinschaft gehört ein Internat mit Bildungseinrichtungen vom ersten Schuljahr bis zum Abitur. Wahrscheinlich ist das für viele ein Hort für große Erlebnisse und Freundschaften der bayrischen Buben, aber auch ein Platz strikter geistiger und geistlicher Führung oder Verführung. 

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass gerade die Katholische Kirche, die ihren Priestern ein zölibatäres Leben abverlangt, just an dieser Stelle ein massives Problem hat. Geistliche erleben Sexualität vermutlich wie jedermann. Das schließt nicht aus, dass es einigen gelingt, was sie Sublimierung nennen: Lust und Liebe, die fast alle Menschen in ihr Sexualleben integrieren, mitzunehmen in Begeisterung für Gebet, Gesang, Sport oder, wenn’s sein soll, Mathematik.

Wer das aber nicht leichten Herzens kann, muss sich “beherrschen können” und oft genug brutal scheitern- zum Schaden der "Zöglinge". Der Schritt vom Erzieher zum Schläger, Peiniger, zum Sexualstraftäter ist dann sehr klein. Ihm anvertraute Kinder und Heranwachsende sind dann keine Opfer, jedenfalls keine im Sinne der Kirche.

Unschuldiges Opferlamm zu sein, sagt die Kirche nicht nachvollziehbarer Theologie, versöhne Gott mit dem Menschen. Was ist das für eine bescheuerte Gottesvorstellung, die dem “Ewigen” angedichtet, er brauche das Leid eines Unschuldigen, um sich nicht mehr über die Untaten der Sünder aufregen zu müssen? Gott als beleidigte Leberwurst? Und doch wird in fast allen Religionen der Welt das Leben von Tieren, Menschen und Almosen in den Opferstock geworfen.

Andere Sprachen haben für Opfer zwei Wörter: Sacrifice - auf dem Altar fragwürdiger Götter.  Und Victim - auf dem Schlachtfeld oder im Bett gewalttätiger Menschen.

Was unser Abendland, unsere Dome und die Spatzen angeht, mag Gott ein Geheimnis bleiben. Geheimnisse verlangen keine Opfer. In Regensburg gibt es offenbar viele hundert Victims, die Erniedrigung und Gewaltanwendung durch Menschen über sich ergehen lassen mussten. Der Anwalt Weber soll, was geschehen ist, rückhaltlos aufklären. Wenn er die Täter und die mutmaßlichen Mitwisser benennt, wie den langjährigen Kapellmeister Georg Ratzinger, wird von dieser religiösen Gemeinschaft radikale Einschnitte verlangen müssen.

***

Ach ja - dieses Thema war nach wenigen Minuten auf den Fernsehkanälen erledigt. Aber der Lärm schwoll wieder an: Heute, zwei Tage später, ist schon von mehr als 500 Anzeigen in Köln (!) die Rede. Überwiegend Frauen haben in den letzten Tagen der Polizei zu Protokoll gegeben, sie seien in der Silvesternacht beklaut, sexuell bedrängt, zotig beschimpft worden. Rudel von Männern hätten sie aufdringlich umzingelt, sie schamlos zwischen den Beinen und am Gesäß berührt. Stimmt: Was da berichtet wird, ist empörend, fordert Prävention, Aufklärung und Strafverfolgung. Gefragt werden muss auch, wie eine Menge von Männern so ausrasten kann. Welche Rolle spielt, was sie in ihrem Umfeld gelernt haben. Wie wirkt sich ihre isolierte Situation in fremder Umgebung aus?

Die Polizei hat, wie sich jetzt herausstellt, in der Silvesternacht geschlafen. Erst in den folgenden Tagen artikulierte sich die täglich gesteigerte Wut. Die Fernsehsender wiederholten eher hilflos stündlich ein nichtssagendes Video. Die Frauen, denen in dieser Nacht Übles angetan wurde, mussten sich durch die dürftigen Berichte und die magere Täterausbeute nochmals herausgefordert fühlen: Sie legten endlich Anzeige um Anzeige nach. Und ganz deutlich zeichnet sich ein Täterprofil ab. Es habe sich um Gruppen von Nordafrikanern, Arabern, offenbar darunter etlichen Flüchtlingen aus Syrien, gehandelt. Viele seien alkoholisiert gewesen.

In den Talkshows pfeifen es die Spatzen, die immer da pfeifen, nun besorgt aus den Sesseln: Zwischen dem Katholischen Dom und dem Deutschen Bahn-Hof ist kein Platz für Muslime, die unsere Frauen angrabschen, unsere Handies klauen und unseren Alkohol trinken, den sie doch gar nicht trinken dürften. Da hilft auch keine Gleichheit vor dem Gesetz. Auf unsere Kosten in den Knast - das geht für viele gar nicht. Solch eine bequeme Unterkunft könne den Asylanten so passen… Die Scharia sähe eine verschärfte Abschiebung in den verschärften Bombenhagel vor. Unsere Tornados schauen dort seit Jahresanfang ganz genau hin.

 

Klaus Commer / Bild: Wikipedia


03.01.2016

Rätseln über Gottes Zukunftspläne

Saudis bringen Prediger Nimr al-Nimr zum Schweigen


Das Brüllen der Worte ist stärker als die Macht der Schwerter. Mit gewaltfrei klingenden Losungen hat der Ayatollah Nimr Baquir al-Nimr vor fünf Jahren zum Widerstand gegen das saudi-arabische Königshaus mobilisiert. Seine Predigten konnten verstanden werden als Aufrufe zur Abspaltung der ölreichen Regionen Kalif und Al-Ihsaa vom Machtbereich der Familie mit ihren etwa 7000 Prinzen.

Der schiitische Geistliche (Bild: Wikipedia / Talkhandak) fand Gehör und Zustimmung weit über die Stadt al-Awamiya hinaus, wo er freitags einen anderen Islam lehrte als die religiösen Repräsentanten der wahhabitischen Staatsreligion, die seit 280 Jahren eng mit dem Herrscherhaus der Sauds verbunden ist.

Die wahhabitisch strenge Auslegung des Koran und der Sunna geht auf Muhammad Ibn al-Wahhab zurück, der 1735 den Machtanspruch des Emirs Muhammad Ibn Saud zu beiderseitigem Nutzen absegnete. Er stärkte die Saud-Dynastik durch eine strenge Auslegung des Rechtssystems der Scharia, die das Foltern, Züchtigen, Verletzen und Töten von Straftätern und oft genug auch nur Andersdenkenden gestattet. Dennoch: Mit der Hinrichtung des Predigers al-Nimr sei nicht zu rechnen, schrieb am 16. Oktober 2014 Gudrun Harrer im Wiener “Standard”. Die Vollstreckung des zwei Tage zuvor verkündeten Todesurteils könne sich der König kaum leisten.

Nimr al-Nimr ist tot. Er wurde gestern, am 2. Januar 2016 im Alter von 56 Jahren hingerichtet. Am gleichen Tag starben durch König Salman Ibn Abd al-Aziz’ Henker 46 weitere Menschen, überwiegend regimefeindliche Sunniten, die sich terroristischer Aktivitäten gegen die Staatsmacht schuldig oder verdächtig gemacht hatten, aber auch vier Schiiten.

Vor allem die Hinrichtung des populärsten schiitischen Geistlichen in Saudi-Arabien führte unmittelbar zu heftigen Protesten. Im Iran, der sich als Schutzmacht der Schiiten versteht, kündigte Ayatollah Ali Chamenei den saudischen Machthabern eine drastische “Rache Gottes” an. In der Hauptstadt Teheran stürmten aufgebrachte Schiiten die Botschaft des arabischen Gegners, die teilweise in Brand gesetzt wurde.

Öffentlicher Protest wurde auch im Irak laut. Im indisch-pakistanischen Krisenherd Kaschmir brachen neue Unruhen aus. Im kleinen saudi-arabischen Nachbarstaat Bahrain - der eine überwiegend schiitische Bevölkerung, aber sunnitische Machthaber hat - wurden wütende Demonstrationen gemeldet. Auch in der westlichen Welt wurde von besorgten Menschenrechtsorganisationen Kritik an der rüden Anwendung der Todesstrafe aus Staatsräson laut, wie sie auch in China oder im Iran praktiziert wird.

Machtkampf im Vorderen Orient flammt auf

Im Nahen und Mittleren Osten hat sich damit die Konfrontation dramatisch verschärft. Die Nationen Saudi-Arabiens, des Irans und der Türkei sind seit Jahren bemüht, in diesem geopolitischen Raum zur Hegemonialmacht Nummer eins zu werden. Dabei helfen religiöse und laizistische Bündnisse. Israel zählt in seiner feindlichen Umgebung zwar nicht auf Verbündete, stützt sich aber auf seine militärische Übermacht, die von den USA und Deutschland gesponsort und insgeheim atomar abgesichtert ist.

Ob die Schecks der unterschiedlichen Monotheistischen  auf die wahre Seinsform und den mutmaßlichen Willen Gottes gedeckt sind, interessiert im egozentrischen Diesseits wahrscheinlich nicht wirklich, solange die Rendite aus Ölförderung, Hotelanlagen oder Rüstungsgeschäften unter dem Strich stimmt.

Hier befinden sich auch die Schnittstellen zu den gern als “Kreuzfahrern” beschimpften, aber längst verweltlichten Europäern, zur Weltmacht USA und zum alten Russland, dasmit Potenzproblemen zu kämpfen hat. Sie alle sind - mit näher rückendem Verfallsdatum - noch immer die Zentren der imperialen und kolonialen Weltherrschaft. Auch sie interessierte bislang kaum das muslimische Jenseits. Sie zahlen an den Börsen für Petroleum und Tourismus, sie verkaufen Panzer und Patente fürs Diesseits.

Die regionalen Rädelsführer im Machtpoker, Saudi-Arabien, der Iran, die Türkei und Israel, haben sich selbst bislang mehr oder weniger bemüht, nicht selbst Kriegsschauplatz zu werden.  So sind sie vorläufig glimpflich davongekommen. Die USA ist als Weltmacht Nummer eins mit diesem Kleeblatt eng verbunden: Das absolutistische saudische Königshaus ist als Ölllieferant, Kapitalgeber und Machtfaktor für das Weiße Haus die erste Wahl. Die saudischen Wahabiten sind gleichzeitig Schutzmacht der sunnitisch geprägten Staaten. Der seit langem von Israel als Erzfeind angesehene Iran, jahrzehntelang auch mit den USA verfeindet, ist eben erst in langwierigen Verhandlungen auf Linie gebracht. Der schiitische Gottesstaat hatte nicht nur ehrgeizige Pläne zur atomaren Aufrüstung erkennen lassen, er unterstützt auch arabische Milizen und Terror-Einheiten, die Israel immer wieder in Angst und Schrecken setzen. Die Türkei spielt an der Süd-Ost-Flanke Europas seit Jahrhunderten eine Schlüsselrolle gegen Osteuropa und hin zum Orient - zu Lasten der Kurden und Russen. Der Weg führt über alte osmanische Träume oder ein klirrendes Inkasso bei EU und NATO.

Bislang haben sich die regionalen Widersacher und die Global Player im Hintergrund damit bemüht, ihre Konflikte außerhalb der eigenen Grenzen auszutragen. Ihre Bomben fallen stellvertretend im Irak, in Syrien, im Jemen, in Lybien oder Zentralafrika. Doch ihre geostrategischen Gesichtspunkte spielen die Hauptrolle. Demokratische Blütenträume sorgen allenfalls für Kolorit in den Medien. Die souveränen Völker des Orients müssen am Ende schon wollen,was die Nordamerikaner wollen. Noch immer sind sie es, die die Regierungen und die Diktatoren wählen und mit Waffen ausstatten. Russland, immerhin, nennt die aktuelle Jagd auf Baschar al-Asad eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren syrischen Angelegenheiten von außen. Putin punktet damit bei einem Regime, das ihn mit unverzichtbaren Militärbasen am Mittelmeer versorgt. England, Frankreich und Deutschland dürfen vom Kuchen der Kriegsgewinnler, vom Profit der USA mal abbeißen. Aber dafür sollen sie die unschönen Bilder von Flüchtlingen aus dem Wasser spülen.

“Wir schaffen das,” hat des deutschen Michels Mutti soeben in der Neujahransprache bekräftigt. Als Pastorentochter und Chefin der Christen-Partei müsste Angela Merkel eigentlich wissen, dass Gott allein der Schöpfer ist. Wir schaffen nur an, kommerziell, kapitalistisch, TTIP-typisch. Da war “Deus lo vult”, der Aufruf zum ersten Kreuzzug im Jahr 1095, noch eine ehrliche Lüge.

Klaus Commer


20.11.2015

Terror und Krieg ähneln sich frappant 

Achtung des Lebens fordert Ächtung von Tod und Gewalt

Wir befinden uns im Krieg, hat der französische Präsident Hollande erklärt. Aux armes, batallions! Jetzt muss die Demokratie für drei Monate aussetzen. Die Verfassung wird auf Kurs gebracht.

Am 13. November haben - so der Stand von Ermittlungen und Bekenntnissen - drei Kommandos von Islamisten aus Frankreich und Belgien mit sechs Anschlägen in Paris mehr als 130 Menschen ermordet. Allein im Konzertsaal Bataclan starben bei einem Massaker nahezu hundert. Höher noch ist die Zahl der Verletzten, nicht alle werden dieses Jahr überleben.

Vor dem Stade de France, dem größten Fußballstadion in Paris, töteten sich Suizid-Attentäter, denen es nicht gelang, unter den Zuschauern des Freundschaftsspiels der Nationalkicker von Frankreich und Deutschland ein Blutbad anzurichten. Auch in und vor gut besuchten Cafés der Metropole kam es zu Schießereien. Innerhalb von Stunden und Minuten erstickte das öffentliche Leben der Stadt in Angst, Entsetzen und Trauer.

Die Verantwortung für das Morden hat der "Islamische Staat" übernommen. Die sunnitisch und islamistisch geprägte Organisation ist in Reaktion auf den Irak-Krieg entstanden, den George W. Bush mit seiner "Koaltion der Willigen" angezettelt hat. Sie hält weite Gebiete im Irak und in Syrien unter Kontrolle. Sie hat auch einige tausend junge Europäer, die extrem gewaltbereit heimkehren, in ihren Bann gezogen.

* * *

Tante Henriette, sie wurde im letzten Monat 96 Jahre alt, verübte vor Jahren ebenfalls einen Anschlag auf die Pariser Metro. In den endlosen Gängen und an den Bahnsteigen finden sich dort diese riesigen Werbeflächen, auf den sich halbnackte Mädchen räkeln, um - es lebe die Demokratie! - für ein beliebiges Deodorant zu werben.

Die Geschichte ist harmlos und lustig: Die mutige Tante, Kunstmalerin von Beruf und in ihrem reinen Herzen eine ebenso glühende wie demütige Christin, war bewaffnet mit einem Eimer voll leuchtend blauer Farbe und einem langstieligen Schrubber. Diesen tauchte sie tief in das Fässchen und das Fassbare geschah: Sie stürzte auf die unzüchtigen halbnackten Demoiselles zu und wischte sie mit aller Kraft ins satte Ultramarin. Nicht ausgeschlossen, dass sie begeistert dabei “Großer Gott, wir loben dich!” sang, Grand Dieu. Doch verlieren wir uns nicht in Nebensächlichkeiten.

Der Staat überwältigte die Rasende. Er kassierte wohl nur ein Ordnungsgeld. Henriette blieb jedenfalls das Gefängnis erspart. Sie beharrt bis heute, aber inzwischen sehr friedlich, auf ihrer Überzeugung, dass die Autoritäten dieser freien Welt schmählich versagen. Sie fuhr damals jahrelang fort, die Potentaten Deutschlands und Frankreichs der Lächerlichkeit preis zu geben. Sie beschimpfte Minister und schrieb den Oberhirten, sie sollten aus ihrem Mercedes aussteigen und Buße tun: "Prendre la corde", sich mit dem Strick des Bettlerordens der Franziskaner umgürten. Der Kardinal von Paderborn ließ bald bei mir nachfragen, ob die Tante noch bei Sinnen sei. Ich bestätigte dies gern. Vive la Libertée. Ich wußte: Meine Tante war vernünftig genug anzuerkennen, dass die aufgeklärte Freiheit nur das zu tun erlaubt, was anderen nicht schadet. 

* * *

Nichts deutet darauf hin, dass Gott aus Zeitvertreib gute und böse Menschen geschaffen hat, damit sich diese in Kriegen oder mit Anschlägen gegenseitig umbringen. Biblische Schöpfer-Geschichten erzählen allerdings, dass schon Kain seinen Bruder Abel brutal ermordete - der Legende nach am Berg Jabal Arbain im heutigen Syrien. Laut Thora kennzeichnete Gott den Gewalttäter mit dem Kains-Mal, eine Art "gelbe Karte". Ein Todesurteil, also die "rote Karte" zog er nicht. 

 Der "Islamische Staat" droht jetzt, die tödlichen Angriffe von Paris seien nur ein Anfang für die "Hauptstadt der Abscheulichkeit und Perversion". Ohrenzeugen wollen "Allahu akba"-Rufe der Attentäter gehört haben. Wieder also soll der große Gott die Gewalt legitimiert haben, der ebenso einzig zu sein beansprucht wie der ewige G'tt der Juden und Gottvater-Sohn-und-Geist der Christen. Logisch ist nur: Drei monotheistische Religionen, drei einzige Götter sind ein Widerspruch in sich.

Das Volk von Clermont irrte, als es Papst Urbans Aufruf zum ersten Kreuzzug nach Jerusalem folgte und "Deus lo Vult" schrie. Die dortigen Anhänger des Propheten Mohammed priesen den gleichen Allah und bekamen das als ziemlich totalen Krieg zu spüren.

Solange Menschen einzeln oder als Horde tödliche Macht ausüben - zu ihrem Schutz oder zu ihrer Bereicherung - nehmen sie allzu gern Gott, das unbekannte Wesen, für ihr Verhalten in Anspruch. Personifiziert im Bischof, Herzog oder Kaiser von Seinen Gnaden. Mit der Aufklärung trat Gott in den Hintergrund hinter der Nation und der Rasse, der Nato und dem Ostblock, ihrem Schurkenstaat oder our Freedom and Democracy.

 * * *

Gott ist wieder da. Der durch Fleiß, Kultur, Religion, Technologie, Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus reich und nahezu unschlagbar gewordene West-Block ist in Allahs Namen wieder angreifbar. Es sind sehr empfindliche Nadelstiche und unmenschliche Morde, sie lösen bei uns, den Betroffenen, Trauer, Angst, Entsetzen aus. Die Angreifer preisen sie Gott. Wenn sie den Sprengstoff an ihrem Körper zünden, nehmen sie andere mit in ihren Tod. Das wirkt auf Westler wie ein Anachronismus.

Manche sagen, das ist Terror. Ein asymetrischer und unfairer Krieg. Der uns das Recht und die Pflicht gibt, für uns selbst den Ausnahmezustand zu erklären und ihren Mord und Tod zu unserem Schutz zu vervielfachen. Krieg um Krieg. Terror um Terror.

Klaus Commer

  * * *

Am 15. November haben namhafte Persönlichkeiten der Stadt Bochum eine Erklärung in Umlauf gesetzt, der ich zustimme. Die "Bochumer Erklärung" lautet:  


"Ter­ror darf kei­nen Platz in unse­rer Gesell­schaft haben.

Ter­ror und Demo­kra­tie schlie­ßen sich gegen­sei­tig aus.

 

Ter­ro­rist ist, wer glaubt, er sei Herr­scher über Leben und Tod.

Ter­ro­rist ist, wer denkt, er sei Herr über Wahr­heit und Irr­tum.

Wer sich an Got­tes Stelle setzt, ist Terrorist.

 

Wir ver­wei­gern jede Recht­fer­ti­gung, jede Soli­da­ri­tät,

jede Unter­stüt­zung des Terrors.

 

Die­je­ni­gen, die an Gott glau­ben, sind sich mit denen,

die nicht an Gott glau­ben, darin einig: Ter­ror kann nicht gott­ge­wollt sein.

Eine Idee, die Men­schen­op­fer ver­langt, ist bar­ba­risch.

Eine Kul­tur, die den Tod will und nicht das Leben, ist eine Kul­tur des Todes.

 

Unser Zusam­men­le­ben grün­den wir auf dem Respekt vor dem Ande­ren und dar­auf, dass nie­mand das Recht hat, sich zum Her­ren zu machen über andere

- egal, wel­ches Geschlecht und wel­che Haut­farbe sie haben,

wel­che Über­zeu­gung sie ver­tre­ten und wel­chen Gott sie bekennen.

 

Wir ach­ten uns, gerade weil wir ver­schie­den sind,

weil wir ver­schie­dene Ansich­ten haben,

weil wir Kon­flikte demo­kra­tisch regeln und ohne Gewalt.

Wir ach­ten uns, wir ächten den Terror."


10.11.2015

Blum und das Ende des Nationalismus

Robert Blum ist am 10.11.1807 in Köln geboren. Mein Sohn Tobias 164 Jahre später am 10.11.1970 in Dortmund. Dieser Beitrag ist ihm anheim gegeben.

 

Aber Robert Blum wurde am 9.11.1848 hingerichtet. Der fast 41-jährige Politiker und Publizist zählte in jenem Jahr zu den herausragenden Köpfen in der Nationalversammlung des Deutschen Bundes, die in der Frankfurter Paulskirche zusammen kam. Aus der Unterschicht stammend und mit dem unbändigen Eifer eines Autodidakten hatte er sich seine Position erarbeitet. Das war kein wohl formuliertes Programm, sondern die Überzeugung, dass Gutes - wie eine Religion, eine Reformation oder eine Staatsrevolution - nicht zustande kommen kann, wenn sich jeder zurück hält im Glauben, doch nichts ändern zu können.

Gleichwohl war Blum nicht vom Erfolg verwöhnt. Er hatte sich in Köln, Elberfeld, München, Berlin als Theaterdiener, Goldschmied, Gerichtsvollzieher, Stückeschreiber und Humorist erprobt. Es gab Ärger mit Affären, bis er in Sachsen erstmals von wirksamer Liebe angerührt war; die erste Frau starb früh, die zweite begleitete ihn in den langen Leipziger Jahren ab 1830, in denen der Autor, Verleger und Publizist sein Format fand. Nach der französischen Revolution, Napoleons Gewaltherrschaft und der Restauration des Wiener Kongresses arbeitete er 1848 auf einen republikanischen Umsturz im Deutschen Bund hin.

Robert Blum hatte sich inzwischen für den gesamtdeutschen Nationalstaat begeistert. Er galt in der Versammlung als Anführer der Demokraten, die in der erhofften Republik einen sozialen Liberalismus verwirklichen wollten. Gleichzeitig folgte er der Idee des Deutsch-Katholizismus, einer freireligiösen Bewegung, die den Primat des Papst, die Beichte und den kirchlichen Kult um Heiligtümer vehement bekämpfte.

Im Oktober des Jahres 1848 schloss er sich in Wien den Kämpfern an, die die Stadt gegen die kaiserlichen Truppen Österreichs verteidigen wollten. Das Standgericht, das den Verurteilten abknallen ließ, war von der Immunität des Abgeordneten nicht beeindruckt. Mit Blum starb ein mutiger Visionär der ersten deutschen Demokratie, die noch nicht erreicht war.

 

Schicksalstag und Zeitenwenden

 

Der 9. November ist wohl eher zufällig ein deutscher "Schicksalstag" geblieben. Auffällig ist: Mehrmals wurde dieser Tag das Datum denkwürdiger Ereignisse. Mit ihnen wurden Paradigmen erkennbar, ohne die Geschichte nicht greifbar ist: Am 9.11.1918 - das kaiserliche Deutschland hatte den ersten Weltkrieg verloren und der Monarch widerwillig abgedankt - rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann aus einem Fenster des Reichstags die "Deutsche Republik" aus. Noch am gleichen Tag antwortete der Kommunist und Spartakist Karl Liebknecht am Berliner Schloss mit der Proklamation einer freien sozialistischen Räterepublik. Mitsamt seiner Weggefährtin Rosa Luxemburg wurde er wenige Wochen nach ihrer Novemberrevolution von Angehörigen eines reaktionären Freikorps erschossen. 

Die Weimarer Republik verzeichnete am 9.11.1923 mit dem noch erfolglosen Hitler-Ludendorff-Putsch in München ein erstes Aufbegehren der Nationalsozialisten. 15 Jahre später war Hitler bereits Reichskanzler und Führer des faschistischen Deutschen Reiches, als die Nazis am 11. November 1938 die Pogrome gegen die Juden entfachten. Die Menschenrechte der Juden wurden nunmehr mit unübersehbar mit Mord, KZ-Haft, Berufsverbot, Enteignung und ihrer Vertreibung aus Deutschland zunichte gemacht. Am Ende konnten Millionen Juden in Europa nicht einmal mehr ihr nacktes Menschenleben retten.

Weder der Sieg der Alliierten über das Dritte Reich noch die Gründungen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik datierten einem 9. November. Zu Mythenbildung ist da kein Anlass. Eher als Posse, die die Welt veränderte, geriet am 9. November 1989 die Pressekonferenz des DDR-Politbürokraten Günter Schabowski, der versehentlich erklärte, eine freie Ausreise der eingemauerten DDR-Bevölkerung sei "ab sofort, unverzüglich" möglich. Das Volk stürmte noch am gleichen Tag durch und über die Berliner Mauer gen Westen. Es fiel kein Schuss an der Todesgrenze. Zum Feiertag der neuen deutschen Einheit wurde später nicht dieser Tag des merkwürdigen Mauerfalls, sondern der 3.10. erkoren, der fast elf Monate später die Wiedervereinigung als Deal in Mark und Pfennig besiegelte.

 

Nationalstaaten blockieren sich

 

Der Nationalstaat, den Blum noch vehement und vergebens erträumte hatte, bleibt seit der Mitte des 20 Jahrhunderts weitgehend diskreditiert durch den völkischen Wahn, den Vernichtungskrieg, den Rassenmord der Nationalsozialisten. Die alliierten Nationalstaaten, die Hitler-Deutschland und die Mittelmächte zerschlagen mussten und konnten, erlitten selbst zuerst millionenfach Tod und Zerstörung. Doch auch die Sieger löschten am Ende hunderttausende Leben aus, final in den atomaren Feuern von Hiroshima und Nagasaki.

Der Krieg hat Sieger wie Besiegte ruiniert. Nur kurze Zeit konnte sich die Atommacht USA als einzige Großmacht der Welt etablieren. Die Sowjetunion zog sehr schnell gleich. Die Nuklearmächte blockierten sich im UN-Sicherheitsrat. Daneben blieb wenig Spielraum für eine Dritte Welt der neuen Nationen Asiens, Afrikas und des neutralen Europas sowie für den globalen Hinterhof einer verarmten Vierten Welt.

Im Kalten Krieg suchten Ost und West mit allen Mitteln des Militärs, der Ökonomie, der Ideologie und Propaganda ihren Machtbereich abzusichern und auszuweiten. Ein unmittelbarer Schlagabtausch der Großmächte, immer wieder als sicherer Weltuntergang beschworen, wurde vermieden. Stattdessen erzeugten Stellvertreterkriege, meist vom Zaun gebrochen zur Eroberung von weltweiten Rohstoff-Ressourcen und Absatzmärkten für permanente Spannungen. Kolonien wurden zu scheinbar selbständigen und unabhängigen Staaten, aber ihre Regierungen blieben in vielen Fällen Handlanger und Befehlsempfänger der Supermächte. Syrien ist das aktuelle Beispiel.

Das Pulverfass Syrien brennt seit mehr als vier Jahren in einem vielschichtigen Bürgerkriegs. Der von den USA und Europa höchst eigennützig unterstützte Arabische Frühling stieß in seiner Damaszener Variante auf harte Abwehr von Baschar al-Assads Militärmacht. Die zivilgesellschaftliche Opposition scheitert, militanten Milizen und eine "Freie Syrische Arme" schlagen zurück.

Der Westen erklärt übereinstimmend, dass Baschar al-Assad nicht mehr toleriert werden kann. Gleichzeitig entwickelt sich in Folge des von US-Präsident Bush II. angezettelten Irak-Kriegs die überraschend wirkungsvolle Bewegung eines internationalen "Islamischen Staats". Binnen Wochen überrennt er große Teile des Iraks und Syriens. Kurden, die gegen den IS ins Feld geschickt werden, werden gleichzeitig vom NATO-Verbündeten Türkei verfolgt. Die US-Airforce und die Militanten unter den Europäern schlagen aus der Luft gegen Assad zu. Doch im Oktober greift Russland ein, um die aufgeriebene Macht Assads neu zu stärken. Auch mit Eigennutz, garantiert dieser doch dem vom Westen geopolitisch isolierten Putin seine Militär-Basis am Mittelmeer.

Die Beseitigung Assads ist vorerst abgesagt. Der Krieg in einem zersplitternden Land geht weiter. Der Waffen-Nachschub kommt auf direkten und verschlungenen Wegen zum großen Teil aus deutschen Schmieden.

Die Flüchtenden sind uns willkommen. 


10.10.2015 - Explosionen in Ankara

Tödlicher Angriff auf freie Wahlen

Viele Menschen der demokratischen Linken sammelten sich heute morgen vor einem Bahnhof in der türkischen Hauptstadt Ankara. Drei Wochen vor den Parlamentswahlen wollten sie ein Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften des Staates und Kämpfern verbotenen Kurden-Organisation PKK einfordern. Bevor sich der Demonstrationzug mit dem Motto "Dem Krieg zum Trotz - Frieden jetzt sofort" in Bewegung setzen konnte, detonierten zwei Bomben. Sieben Stunden später sind bereits 86 Tote gezählt, am Abend 97. Dazu an die zweihundert Verletzte. 

Die türkische Republik am Übergang von Europa in den Nahen und Mittleren Osten seit steht Jahr und Tag im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.

Nachdem das Osmanische Reiche als Vielvölkerstaat mit dem ersten Weltkrieg zerbrochen war, hat Kemal Attatürk 1923 einen laizistischen Staat geschaffen, der sich nicht nur geografisch, sondern auch kulturell und politisch als Brücke zwischen Europa und Asien präsentiert. Jahrzehnte später ist er Mitglied des Europarates und der Nato. Mit dem von seinen arabischen Nachbarstaaten angefeindeten Israel gab es politische und militärische Vereinbarungen, die in den letzten Jahres Risse bekamen.

Recep Tayyip Erdogan und seine "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) stellen seit 2003 eine muslimisch-konservative Regierung, die den Beitritt zur Europäischen Union anstrebt, aber mit diesem Begehren nicht nur hierzulande auf erhebliche Vorbehalte stößt. Nach drei Amtszeiten als Ministerpräsident konnte Erdogan 2014 nicht erneut zur Wahl antreten. Sein Einfluss reichte, um das repräsentative Amt des Präsidenten zu übernehmen, das er seither konsequent zur stärksten Machtposition im Staat ausbaut.

 

Suche nach den Tätern und Motiven

Fatal für die AKP ist, dass die kurdisch geprägte "Demokratische Partei der Völker" (HDP) bei den letzten Wahlen im Juni erstmals mit 13 Prozent die Zehn-Prozent-Hürde übersprang und mit 27 Abgeordneten in das Parlament einzog. Damit war die absolute Mehrheit der AKP gebrochen; eine stabile Koalition kam nicht zustande. Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, mit Neuwahlen am 1. November ein erneues Mandat zur Alleinregierung zu erhalten. Letzte Umfragen sehen aber die HDP wiederum bei mehr als zehn Prozent.

Die rund 80 Millionen Bewohner der Türkei werden nicht nach Ethnien registriert. Geschätzt wird, dass  70 bis 77 Prozent zum Turkvolk gehören und dessen türkische Sprache sprechen. Auf 14 bis 18 Prozent beläuft sich die indogermanisch-iranisch geprägte Minderheit, die nordkurdisch spricht. Viele Kurden fordern mehr Autonomie in der Türkei, etliche wollen sogar - gemeinsam mit Kurden im Iran, Irak und in Syrien - einen eigenen Staat Kurdistan.

Zur Stunde gibt es noch keine eindeutigen Hinweise zur Klärung der heutigen Gewalttaten. Den ersten Blick richten die Kommentatoren auf den "Islamischen Staat", der dabei ist, im Irak und in Syrien grenzüberschreitend sein fundamentalistisches "Kalifat" zu etablieren. Wie bei den Anschlägen in Diyarbakir und Suruc könnten islamistische Selbstmordattentäter am Werk gewesen sein - möglicherweise mit türkischem Hintergrund.

Fragt man nach den innenpolitischen Auswirkungen der Tat, ist der türkische Geheimdienst MIT nicht weniger in Verdacht: Das Entsetzen nach diesem massiven Anschlag könnte viele türkische Wähler verleiten, in drei Wochen die vermeintlich starke Hand der AKP zu wählen, deren Hinterleute heute selbst ihre Finger im Spiel gehabt haben können.

Beweise dafür liegen nicht oder noch nicht vor. Erdogan und Davutoglu haben Staatstrauer verordnet und den Wahlkampf für drei Tage unterbrochen, um zur Klärung beizutragen. Die als Terroristen gebrandmarkten Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK hatten schon vor dem Anschlag angekündigt, ihre militanten Aktionen bis zur Wahl einstellen zu wollen.

 

Konflikte auch an der syrischen Grenze

Schwer durchschaubar ist gleichzeitig die Rolle, die die Türkei als nördliches Nachbarland des sich im Bürgerkrieg zerfleischenden Syrien spielt. Im Dezember 2012 hat der NATO-Staat Türkei im Rahmen der Integrierten Luftverteidigung auch aus Deutschland "Patriot"-Systeme angefordert und erhalten, um mögliche syrische Angriffe abwehren zu können. Gleichzeitig wollte die Türkei den Einsatz nordirakischer Peschmerga-Kämpfer gegen den im Norden Syriens vorrückenden "Islamischen Staat" insbesondere auf die grenznahe Stadt Kobane unterstützen. Die kurdischen Peschmerga aus dem Nordirak wurden jedoch schon bald durch den erfolgreicheren Einsatz von PKK-Kämpfern verdrängt. 

Das führte prompt dazu, dass die türkische Regierung weniger gegen den IS vorgeht und vielleicht sogar mit ihm zusammenarbeitet, um diesseits und jenseits der Grenze gegen PKK-Stellungen vorzugehen. Bereits vor dem heutigen Anschlag gab es - zum Beispiel in Süruc - Anschläge, die vor allem die kurdische Minderheit trafen. In der von der von der Türkei geforderten Pufferzone in Nordsyrien - in der etwa die umkämpfte Stadt Kobane liegen würde - soll keinesfalls ein kurdischer Staat entstehen.

Jüngste Entwicklungen: Deutschland will seinen Patriot-Einsatz noch in diesem Jahr vorzeitig beenden, da die Assad-Regierung nicht aggressiv gegen die Türkei vorgeht. Doch neue Proteste der NATO richten sich gegen Russland, das nun seit zwei Wochen die syrische Regierung im Bürgerkrieg gegen den IS und andere Bürgerkriegsparteien, darunter die vom Westen geförderte "freie syrische Armee", unterstützt. Die russischen Bomber sollen, so hieß es in der letzten Woche in Ankara und im NATO-Hauptquartier, dabei den türkischen Luftraum verletzt haben.

Die Regierungen Deutschlands, der USA und Russlands beeilen sich, um dem türkischen Regime an diesem Tag zu versichern, dass sie von diesem Anschlag auf die Demokratie tief betroffen sind. Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärt: "Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus."

Auch Erdogan? In vielen Städten der Türkei und Europas gehen die Menschen auf Distanz.

Text: (c) Klaus Commer / act 15001 
Foto: (c) Reuters